×

Ueber die physikalische Bedeutung des Princips der kleinsten Wirkung. (German) JFM 18.0941.01

Sir W. Thomson spricht im \(\S 318\) seiner “Theoretischen Physik” die Ueberzeugung aus, dass man dem Princip der kleinsten Wirkung noch “eine viel tiefere Bedeutung beilegen wird, nicht nur in der abstracten Dynamik, sondern auch in der Theorie mehrerer Zweige der Physik, die jetzt anfangen, dynamische Erklärungen zu erhalten.” Diese tiefere Bedeutung erhält das Princip in der vorliegenden Abhandlung.
Der Verfasser benutzt dasselbe in einer von Hamilton’s Formen, welche zulässt, dass auf das betreffende mechanische System, dessen innere Kräfte nur conservative sind, noch äussere von der Zeit abhängige Kräfte einwirken, deren Arbeit besonders berechnet wird. Er nennt die Function \(H=F-L,\) wo \(F\) die potentielle Energie, \(L\) die lebendige Kraft ist, das kinetische Potential, weil es die Function ist, durch deren Differentialquotienten Lagrange die nach aussen gewendeten Kräfte des bewegten Systems ausgedrückt hat, und spricht dann das Princip in folgender Fassung aus: Der für gleiche Zeitelemente berechnete Mittelwert des kinetischen Potentials ist auf dem wirklichen Wege des Systems ein Minimum (bez. für längere Strecken ein Grenzwert) im Vergleich mit allen anderen benachbarten Wegen, die in gleicher Zeit aus der Anfangslage in die Endlage führen. Für das Gleichgewicht muss dann einfach die potentielle Energie ein Minimum sein. Wird zu \(H\) noch \(\sum_{\mathfrak a}(P_{\mathfrak a}p_{\mathfrak a})\) hinzugefügt, wo \(p_{\mathfrak a}\) die Coordinaten, \(P_{\mathfrak a}\) die in der Richtung von \(p_{\mathfrak a}\) wirkenden Kräfte bedeuten, und diese \(P_{\mathfrak a}\) gegebene Functionen der Zeit sind, so erhält man aus jenem Satze durch Variation Lagrange’s Gleichungen für die Kräfte \(P_{\mathfrak a}\). Alle speciellen Untersuchungen also, welche sich auf diese Bewegungsgleichungen gründen, gehören auch in den Bereich des – etwas modificirten – Princips der kleinsten Wirkung oder des “Minimalsatzes des kinetischen Potentials”. Und danach erscheint es als höchst wahrscheinlich, dass dieser das allgemeine Gesetz aller umkehrbaren Naturprocesse ist.
Indem \(H\) als beliebige Function der Coordinaten \(p_{\mathfrak a}\) und der Geschwindigkeiten \(q_{\mathfrak a}\), welche nur in allen Lagen endliche erste und zweite Differentialquotienten nach \(p_{\mathfrak a}\) und \(q_{\mathfrak a}\) haben soll, vorausgesetzt, nicht aber darauf beschränkt wird, dass nur homogene Functionen zweiten Grades der \(q_{\mathfrak a}\) in dem Ausdrucke für die lebendige Kraft vorkommen, wird der Minimalsatz entwickelt und werden die Bewegungsgleichungen von Lagrange daraus hergeleitet. Besondere Erwähnung finden die “Fälle mit verborgener Bewegung”, d. h. physikalische Vorgänge, bei denen auch die Geschwindigkeit linear enthaltende Glieder in der Function \(H\) vorkommen, und es werden ferner Eliminationen angegeben, infolge deren auch für Systeme wägbarer Massen höhere Potenzen der Geschwindigkeiten in den Gliedern von \(H\) vorkommen können.
Aus dem Minimalsatze wird das Princip von der Constanz der Energie abgeleitet, und der Wert der letzteren wird aus demjenigen des kinetischen Potentials berechnet: \[ E = H - \sum_{\mathfrak a}\left(q_{\mathfrak a}\;\frac{\partial H}{\partial q_{\mathfrak a}}\right)\cdot \] Nicht immer gilt das Princip der kleinsten Wirkung, wenn dem Gesetz von der Constanz der Energie genügt wird; ersteres drückt noch einen besonderen Charakter der vorhandenen conservativen Naturkräfte aus. Zur Erläuterung dienen Beispiele aus der Mechanik, Elektrodynamik und Thermodynamik.
Durch Integration der Gleichung \[ E = H - \sum\left( q_{\mathfrak a} \frac{\partial H}{\partial q_{\mathfrak a}} \right) \] wird dann umgekehrt \(H\) durch \(E\) bestimmt; die auftretende Integrationsconstante ist eine homogene Function ersten Grades der \(Q_a\) und entspricht den verborgenen Bewegungen.
Aus den Gleichungen von Lagrange ergeben sich für die Kräfte bewegter Systeme, welche dem Minmialsatz der kinetischen Energie unterworfen sind, Wechselbeziehungen zwischen den Kräften einerseits und den Beschleunigungen, Geschwindigkeiten und Coordinaten andererseits; und diese Betrachtungen werden angewandt auf die Verknüpfung der elektrodynamischen und elektromagnetischen Gesetze mit dem Inductionsgesetz, auf thermodynamische, thermoelektrische und elektrochemische Vorgänge. Es wird noch bemerkt, dass die Gültigkeit des Princips der kleinsten Wirkung auch aus dem Bestehen jener Wechselbeziehungen der Kräfte abgeleitet werden kann; der Beweis wird auf eine spätere Mitteilung verschoben.
Es folgt die Herleitung von Hamilton’s Differentialgleichung unter den erweiterten Voraussetzungen, welche in dieser Abhandlung gemacht sind, und im Anschluss daran die Entwickelung der Reciprocitätsgesetze für die durch kleine Anstösse nach Ablauf einer bestimmten Zeit erfolgenden Aenderungen der rechtläufigen und rückläufigen Bewegung. Das Gesetz der Reciprocität, welches der Verfasser in früheren akustischen Untersuchungen nachgewiesen hat, gehört als specieller Fall hierher.
Endlich werden noch die Bewegungsmomente statt der Geschwindigkeiten als unabhängige Veränderliche eingeführt, woraus sich eine andere Form des Variationsproblems und ein anderes Reciprocitätsgesetz ergiebt.