Auf dem Friedhof treffen sie sich wieder, die Verstorbenen, die sich schon zu Lebzeiten nicht ausstehen konnten, die sich bestohlen, betrogen, ausgeriAuf dem Friedhof treffen sie sich wieder, die Verstorbenen, die sich schon zu Lebzeiten nicht ausstehen konnten, die sich bestohlen, betrogen, ausgerichtet, verleumdet oder gar ermordet haben. Es scheint ihr Schicksal zu sein, all ihr großes und kleines Hickhack auch noch als Leichen unter der Erde auf ewig weiterspinnen zu müssen. So lamentieren und schimpfen und fluchen sie in einem 550 Seiten langen Stimmengewirr ohne Ende.
Wer auf jegliche Handlung verzichten kann und ein offenes Ohr für schrägen Witz und schwarzen Humor hat, wird das Buch mögen, obwohl es herausfordernd ist. Es besteht ausschließlich aus direkter Rede, und erst mit der Zeit und mit viel Aufmerksamkeit lernt man, die verschiedenen Sprecherinnen und Sprecher an ihrer persönlichen Ausdrucksweise wiederzuerkennen, ihnen Namen zuzuordnen und ihre Verstrickungen zu Lebzeiten zu verstehen. Die Namen allerdings sind eine weitere Herausforderung. Die irische Schreibweise und ihre Aussprache blieben mir trotz einer kurzen Anleitung im Anhang ein Rätsel, und auch die Varianten und Verkleinerungsformen trugen zu meiner Verwirrung bei.
Mit diesem ganzen unteridischen Geschwätz werden die Komplikationen menschlichen Zusammenlebens in ihrer ganzen Bandbreite trefflich vorgeführt, was eine durchaus allgemeingültige Sicht auf ein Dasein eröffnet, das man nur mit Humor ertragen kann. Die vielen Anspielungen allerdings, auf die speziell irische Kultur und Politik, auf Lieder, Gedichte, Nationalhelden und Volksgut sind für den Kontinentaleuropäer nur schwer einzuordnen, deshalb dürfte der volle Spaß nur autochthonen Lesern vorbehalten sein....more
Was macht ein politischer Konflikt wie der in Irland mit den Menschen? Vor allem wenn man, wie die Protagonistin da unschuldig hineingeboren wurde undWas macht ein politischer Konflikt wie der in Irland mit den Menschen? Vor allem wenn man, wie die Protagonistin da unschuldig hineingeboren wurde und sich als junge Frau naturgemäß für anderes als die bald 800 Jahre dauernde Misere und ihre Ursachen interessiert. Das wäre ein spannendes Thema. Leider bildet diese Frage nur den Hintergrund für eine Reihe wenig zusammenhängender Anekdoten und die recht gewöhnlichen Probleme einer 18-Jährigen mit ihren Beziehungen und dem Erwachsenwerden. Einige wenige Passagen haben mir gefallen, den Großteil aber fand ich uninteressant und langatmig.
Bleibt die "unverwechselbare" Stimme, von der die Jury des Booker Preises spricht. Diese ist zwar originell, allerdings denke ich bei "unverwechselbar" an Autoren wie Virginia Woolf, Thomas Bernhard oder ähnliche Kaliber, und da ist noch sehr viel Luft dazwischen. Ich konnte auch nicht immer entscheiden, ob die Stimme jetzt der spätpubertären Göre in ihrer unbedarften Schnoddrigkeit gehört, oder nicht doch einer erwachsenen Erzählerin, wodurch dieser Ton aber zur Attitüde wird.
Angeregt durch Preise und Blurbs hatte ich Großes erwartet, und so ist die Enttäuschung umso größer. Schade!...more
Der Ulysses hat mich vor vielen Jahren schon einmal begeistert. Sozusagen groß geworden mit der Wiener Gruppe, H.C Artmann, Gerhard Rühm, Ernst Jandl Der Ulysses hat mich vor vielen Jahren schon einmal begeistert. Sozusagen groß geworden mit der Wiener Gruppe, H.C Artmann, Gerhard Rühm, Ernst Jandl ... hatte ich vor allem ein offenes Ohr für das lustvolle Spiel mit der Sprache.
Allerdings war schon auf den ersten Seiten klar - Buck Mulligan zelebriert mit Rasiermesser und Seifenschale offensichtlich eine "liturgische Rasur" - dass da noch viel mehr ist und dass dieses mehr nicht leicht zu entschlüsseln ist. 50 Jahre später wollte ich es genau wissen.
Will man dem Ulysses wirklich näher kommen, nehme man die kommentierte Ausgabe, eine gute Auswahl an Sekundärliteratur, dazu die Bibel, Homer, Dante, Shakespeare, Milton und andere Klassiker, einen Abriss der irischen Geschichte, einen Stadtplan von Dublin und vor allem reichlich Zeit und Geduld.
In einer kleinen Lesegruppe und ausgerüstet mit den meisten dieser Zutaten haben wir uns sechs Monate lang durch die ~18 Stunden Handlung gearbeitet, Hintergründe recherchiert, Inhalt und Deutung diskutiert. Die Mühe hat großen Spaß gemacht und hat sich ausgezahlt, sie hat uns einen profunden Blick in die Tiefen dieses Meisterwerks eröffnet. Trotzdem habe ich das Gefühl, nur an der Oberfläche gekratzt zu haben. Zu dicht und zu komplex ist das Geflecht an Themen, Referenzen und Bedeutungsebenen, als dass man es erschöpfend fassen könnte.
Dass der Ulysses zu den absoluten Höhepunkten der Moderne zählt, hat sich für mich nach dieser reichhaltigen Erfahrung nur bestätigt und ist nicht mehr verhandelbar....more