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Die Predigtkirche im Mittelalter

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Textdaten
Autor: Max Hasak
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Titel: Die Predigtkirche im Mittelalter
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Entstehungsdatum: 1893
Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: Wilhelm Ernst & Sohn
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Erscheinungsort: Berlin
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Quelle: Commons
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[I]
DIE


PREDIGTKIRCHE IM MITTELALTER.




VON


M. HASAK,


KÖNIGL. LANDBAUINSPECTOR IN BERLIN.





BERLIN 1893.


VERLAG VON WILHELM ERNST & SOHN.


(VORM. ERNST & KORN.)
[II]
Sonderdruck aus der Zeitschrift für Bauwesen, Jahrgang 1893.




Alle Rechte vorbehalten.


[1]      Ueber die mittelalterlichen Kirchengrundrisse, ihren Zweck, ihre Entstehung und ihre Benutzung herrschen vielfach unter den heutigen Kunstschriftstellern absonderliche und irrige Anschauungen, was um so unverständlicher ist, als es sich doch um die Gotteshäuser einer Kirche handelt, die noch heute fortbesteht, über deren Einrichtungen und Gebräuche man sich daher jeden Tag durch Augenschein und Nachfrage unterrichten könnte, wenn man sich anschickt, über jene Gotteshäuser gelehrte Abhandlungen zu schreiben. Bei chinesischen Pagoden würde dies ja größere Schwierigkeiten bereiten und eine so große Reihe von Irrthümern leichter erklären und entschuldigen.

     Jedem Baumeister, der in seinem Fache thätig war, wird es ohne weiteres klar sein, daß diesen mittelalterlichen Kirchengrundrissen, wie auch heutzutage noch allen Grundrissen, selbstverständlich ganz bestimmte Programme zu Grunde gelegen haben müssen, die selber wiederum der Hauptsache nach durch den Zweck, dem das Gebäude dienen sollte, vorgeschrieben waren. Zu dem Zweck des Gebäudes treten Platz, Mittel, Zeitalter, Material, Klima und Gewohnheiten als mitbestimmend hinzu und bilden so das Programm. Soweit bei der einheitlichen Kirche des Mittelalters der Zweck derselbe war, mußten natürlich die gleichen Grundrißlösungen entstehen, und diese unterschieden sich nur insoweit voneinander, als einerseits, wie oben schon angeführt, Platz, Mittel, Zeitalter, Material, Klima und Gewohnheiten verschieden waren und anderseits der Baumeister seine Kunst mehr oder weniger beherrschte. Man darf nicht übersehen: soweit der Zweck derselbe war.

     Es gab nämlich verschiedenartige Zweckbestimmungen, welchen die mittelalterlichen Kirchen zu dienen hatten. Und zwar nicht etwa der Zeit oder dem Orte nach verschiedene, sondern solche, die zu gleicher Zeit und fast überall in der [2] mittelalterlichen Kirche nebeneinander bestanden. Dies übersieht man zu allermeist. Es gab Kirchen, die als bischöfliche Kirchen zu dienen hatten, und die man Dome, Münster oder Kathedralen nannte. Als solche hatten sie die Bedürfnisse zu befriedigen, welche dem Bischof und seinen Domherren ihr Amt und ihre Würde auferlegten, in Bezug auf sie selbst sowohl wie in ihren Beziehungen zum Volke. Andere Kirchen hatten als Klosterkirchen zu dienen. Hierbei mußten sie denjenigen Anforderungen genügen, welche die Regel der Klostergeistlichen und Klosterinsassen an sie stellte. Dabei entstanden verschiedene Lösungen, je nachdem der Orden ein der Welt abgekehrtes Leben führte oder zur Belehrung und Einwirkung auf das Volk gegründet war. Die dritte und allerverbreitetste Art Kirchen hatte als Pfarrkirchen zu dienen, d. h. diese mußten einer bestimmten, nicht allzu großen Gemeinde sonn- und wochentäglich Unterkunft gewähren, um der heiligen Handlung beiwohnen, die Predigt anhören und die Sacramente empfangen zu können. Hierbei wurden verschiedene Ausbildungen des Chores erforderlich, je nachdem die Pfarrgeistlichen dem Weltclerus angehörten oder Ordensgeistliche waren, da den Ordensgeistlichen — auch wenn sie als Pfarrherren hinausgesandt wurden — klösterliche Uebungen auferlegt waren, die der Weltclerus nicht zu verrichten hatte und welche die Gemeinde und deren Gottesdienst nicht berührten. Wurden solche Pfarrkirchen durch große Stadtverwaltungen oder reiche Körperschaften errichtet, dann trat zu dem reinen Bedürfniß einer Pfarrkirche noch die Anforderung hinzu, bei besonderen Festen Raum für die Angehörigen der verschiedenen Pfarreien der Stadt und des umliegenden Landes zu bieten. Diese Kirchen sollten dann die Macht der Stadt und den Reichthum der Bürger zeigen. Sie wurden daher zu Schau- und Prunkstücken, die zum Gepränge und nicht allein dem bloßen Gebrauche dienten, die die Bauten der Nachbarstädte überbieten, womöglich der Bischofskirche selbst den Bang ablaufen sollten.

     Das waren die hauptsächlichsten Arten mittelalterlicher Gotteshäuser und das sind sie auch heute noch in der katholischen Kirche. Jeder kann sich daher leicht von der Art [3] ihrer Benutzung überzeugen. Zu glauben, daß diese verschiedenartigen Gotteshäuser durch verschiedenartige Strömungen in der mittelalterlichen Kirche hervorgerufen seien, daß man in der einen etwas anderes geglaubt habe, als in der anderen, daß die Pfarrkirchen durch die evangelische Richtung in der Kirche hervorgerufen worden seien, die Kathedralen dagegen und die Klosterkirchen durch die katholische, das ist ebenso irrthümlich als absonderlich. Meistens stehen sogar Kathedrale, Pfarrkirche und Klosterkirche dicht nebeneinander. Wer kennt nicht den Dom und die Liebfrauenkirche in Trier und die kleinen Pfarrkirchen daselbst! Wer hat nicht das herrliche Stadtbild von Erfurt in Erinnerung: auf der einen Seite der Dom mit seinem langen Priesterchor, dicht daneben die S. Severikirche mit ihrem mäßig entwickelten Pfarrchor, dem quadratischen Laienhaus und den überschlanken Innenpfeilern, die den freien Blick auf Kanzel und Altar kaum behindern! Und durch die Stadt zerstreut liegen noch eine große Zahl kleiner Pfarrkirchen mit ganz zusammengerückten Grundrissen, ohne Capellenkränze und mit bescheidenen Pfarrchören. Dicht hinter dem St. Veitsdom in Prag fällt jedermann sofort die alte romanische St. Georgskirche ins Auge. Wenige hundert Schritte entfernt liegt der Strahov und in der Stadt straßauf straßab kleine, ihrem Zwecke durchaus entsprechende Pfarrkirchen. In jeder Bischofsstadt wiederholt sich dieses Bild des einträchtigen und unmittelbaren Nebeneinanderstehens der Kathedrale, der Pfarrkirchen und der Klosterkirchen, und überall in den vielen anderen Städten, wo keine Bischofskirchen bestehen, finden sich in buntem Wechsel Pfarr- und Klosterkirchen friedlich nebeneinander. Wer könnte bei dem Anblick dieses sich beständig wiederholenden Zusammenstehens der verschiedenen Kirchen auf den Gedanken kommen, überall und in jeder Stadt seien diese Kirchen durch verschiedene, sich bekämpfende und einander entgegenstehende Richtungen entstanden? Nur derjenige, welcher ganz abseits vom katholischen Leben mit vorgefaßten Ansichten an diese sonst so selbstverständlichen Dinge herantritt. Kathedralen, Kloster- und Pfarrkirchen sind Gotteshäuser derselben einheitlichen Kirche, im Mittelalter wie heutzutage, [4] die nicht durch verschiedenartige oder gar einander entgegenstehende Richtungen hervorgerufen, sondern nur durch verschiedene Bedürfnisse einundderselben Kirche bedingt worden sind.

     Die so irrige Beurteilung der verschiedenartigen mittelalterlichen Gotteshäuser erklärt sich zum guten Theile wohl daraus, daß in den Büchern sehr wenig mittelalterliche Pfarrkirchen abgebildet sind. Man findet dort fast nichts als aufwendige Kathedral- und Klosterkirchengrundrisse, und diese bilden daher den Typus des „katholischen Grundrisses“, wie er sich in den Anschauungen jener Kunstschriftsteller festgesetzt hat. Diesen nur allein haben sie im Auge und da ihnen die Kenntniß mangelt, welchen Zwecken die Kathedralen und Klosterkirchen dienten, so vergleichen sie diese Kathedral- und Klosterkirchengrundrisse mit denen der heutigen protestantischen Pfarrkirchen — und der Irrthum ist da.

     „Die katholische Kirche als solche bevorzugt in Schiffe getheilte Processionskirchen (!) mit stark, und zwar jenseits eines Querschiffes entwickeltem Priesterchor. Die evangelische Richtung beschränkt den Chor oder doch seine Sonderstellung. Wo der Gottesdienst nicht vorzugsweise in Messe und Heiligencult bestand, sondern die Erklärung des Wortes zur Hauptsache wurde, wurden alsbald Kirchen gebaut, die zur Anhörung des Wortes geeignet waren. Die Bekämpfung der Evangelischen durch katholische Lehre mußte zunächst ebenfalls durch das Wort geschehen. Daher haben die Predigerorden, seien es nun die Dominicaner des 13. oder die Jesuiten des 16. Jahrhunderts, die Hallenformen aufgenommen, um, sobald sie wieder in den ruhigen Besitz der Geister gelangt waren, zur Meß- und Processionskirche zurückzukehren.“ So schreibt Hr. Professor Cornelius Gurlitt im Jahrgang 1892 der Zeitschrift für Bauwesen in seinen „Beiträgen zur Entwicklungsgeschichte der Gothik.“

     Zuerst sei der Pfarrkirchengrundriß erörtert. So unbekannt wie er ist, so ist er selbstverständlich fast in jeder Stadt zu finden, in größeren Städten häufig mehreremale, häufig auch auf den Dörfern — überall eben, wo einige Tausend Christen bei einander wohnten und wohnen. Er muß überall [5] zu finden sein, da ja die katholische Kirche dem Christen den Besuch des sonntäglichen Gottesdienstes, nämlich der Messe und der Predigt, zur strengsten Pflicht gemacht hat. Man kann diese Vorschrift in jedem Katechismus und Beichtspiegel „bei einer Tod- oder läßlichen Sünde“ eingeschärft finden, in allen Katechismen und Beichtspiegeln seit 1520 wie in jedem dieser Bücher auch in der frühen Zeit der Buchdruckerkunst von 1470—1520, die man auf jeder größeren Büchersammlung noch heut aufschlagen kann. Jeder praktische Baumeister liest dies übrigens — um von den theologischen Beweismitteln abzukommen — aus den mittelalterlichen Pfarrkirchengrundrissen selbst heraus, auch aus denen, die der Zeit vor 1470, zurück bis zu den Zeiten Constantins angehören.

     Das Pfarrkirchenbedürfniß erfordert einen Baum für den Hochaltar: den Chor, vielleicht 8 : 10 m groß, ferner Platz für zwei Seitenaltäre, eine Predigtkanzel und Raum für eine nicht allzugroße Gemeinde, welche die Messe und die Predigt sehen und hören soll. Diese beiden Theile des Gottesdienstes, Messe und Predigt, bedingen die Gestaltung des Grundrisses. Und zwar wird die Messe des Hauptgottesdienstes fast ohne Ausnahme am Hochaltar gelesen. Die Seitenaltäre kommen nur in Gebrauch, wenn mehrere Geistliche bei der Kirche vorhanden sind, und bei besonderen Andachten. Ist nämlich die Gemeinde für einen Geistlichen zu groß, so erhält er einen oder mehrere Capläne zur Hülfe. Diese müssen ebenfalls jeden Tag die Messe lesen. Können sie das nicht nacheinander thun, so benutzen sie die Nebenaltäre zur selben Zeit. Processionen finden in den Pfarrkirchen mit Weltgeistlichen nur zweimal im ganzen Jahre statt, zu Frohnleichnam und zur Auferstehung. Hierfür brauchen die Bankreihen nur breitere Gänge als in protestantischen Kirchen freizulassen. Am Grundriß ändert sich dadurch gar nichts. Auch bei denjenigen Pfarrkirchen nicht, die Klostergeistliche haben, deren manche Sonntag nachmittags — nicht einmal beim Hauptgottesdienste — die Hostie in Procession in der Kirche herumtragen. Daß solche Processionen aber mehrschiffige Kirchen bedingen sollen, und daß die katholische Kirche „Processionskirchen“ bevorzuge, ist durchaus irrthümlich.

[6]      Warum sollte man wegen zwei oder drei Processionen im Jahre, die noch dazu wenn irgend angängig außerhalb der Kirche abgehalten werden, „Processionskirchen“ bevorzugen? Und was soll „Processionskirche“ überhaupt bedeuten? Warum sollte man nicht in einem einschiffigen Raum ebenso gut herumziehen können, wie in einem dreischiffigen, wenn jener ebenso groß ist wie dieser? Da könnte man die Procession doch wenigstens überall sehen! Drei Schiffe baute man einfach deshalb, weil man den erforderlichen Raum für eine größere Gemeinde ohne die Stützenreihen nicht zu überwölben vermochte. Dieser sehr greifbare und lediglich technische Grund ist es, keineswegs ein „liturgischer“. Und wo besseres Können vorhanden war, in den großen Städten, an den Bischofssitzen oder in Gegenden, die noch von alten Zeiten her große Wölbungen herzustellen verstanden, da ging man auch weiträumiger vor. Das liegt lediglich am Können der Baumeister und Werkleute, an nichts anderem, am wenigsten, wie gesagt, an den zwei oder drei Processionen im Jahre. Und inwiefern soll der „Heiligencult“ einen Einfluß auf den Grundriß in dem Sinne ausüben, daß dieser in Schiffe getheilt werden müßte? Höchstens stiftet eine Körperschaft oder eine reiche Familie einen Altar zu Ehren eines Heiligen, und dann entstehen Capellen. Daher sind solche Capellen, außer bei den Kathedralen und Klosterkirchen, wo sie durch das Programm gleich vorgeschrieben und daher gleich von Anfang im Grundriß organisch vorgesehen sind, bei Pfarrkirchen allermeist spätere Anflicksel. Zum Programm der Pfarrkirche gehören sie nicht, höchstens insoweit, als man z. B. am Charfreitag einen Raum für das heilige Grab, zu Weihnachten einen solchen für den Stall zu Bethlehem braucht, also gewissermaßen als Nebengelasse.

     Von den schönsten Pfarrkirchen des Mittelalters dürften ganz allgemein bekannt sein Sct. Marien zur Wiese in Soest, die Frauenkirche in Nürnberg, Sct. Severi in Erfurt, die Marienkirche in Herford u. a. m. (vgl. d. Abb. auf S. 20/21). Ueber die Unmenge der unbekannteren später. Wenn man vorab diese Grundrisse betrachtet, die als vorzügliche Lösungen der [7] Aufgabe angesehen werden können, so wird man finden, daß der Raum für die Andächtigen überall fast quadratisch gestaltet ist, wodurch er die Menge in möglichster Nähe und thunlichst gleichmäßig um einen Punkt, die Kanzel, die an einem Pfeiler angebracht ist, zu schaaren gestattet. Dieser quadratische Grundriß bedarf auch zu seiner Ueberwölbung am wenigsten Pfeilereinstellung, und letztere ist in ihm die möglichst günstige für den freien Ausblick auf die Kanzel. Daß dies ein Predigtkirchengrundriß ist — und zwar der allerpraktischste und ungekünsteltste, leuchtet ohne weiteres ein. Heutzutage geht man anders vor: man sucht den Mittelraum zu vergrößern; man rückt die Pfeiler ganz an die Wände oder baut unter Vermeidung aller Pfeiler im Innern in Kreuzform.

     Welchen überwiegenden Werth man bei den angeführten Grundrissen gerade auf die Predigt gelegt hat, d. h. auf die Möglichkeit, den Predigenden zu hören und zu sehen, beweist auch mittelbar die Anordnung des Hochaltars. Der Chor, in welchem dieser steht, ist ganz mäßig tief gehalten, er ist „kein langer Priesterchor“ und nicht umgeben von einem Capellenkranze, und trotzdem ist der Hochaltar von viel weniger Plätzen sichtbar als die Kanzel. Man hielt also das Ueberblicken des Hochaltars für weniger wichtig als das Anhören der Predigt, in voller Erkenntniß der Wichtigkeit dieses Mittels für das Insichgehen und die Veredlung der Menschheit. Man könnte aus diesen Pfarrkirchengrundrissen ebenso wie aus denen der Kathedralen mit vollem Recht folgern, daß, da ein großer Theil der Andächtigen den Geistlichen bei der Messe gar nicht sieht, auf diese gar kein oder nur geringer Werth gelegt worden sei. Warum zieht man nicht diesen naheliegenden und berechtigten Schluß? Der würde freilich nicht zu der vorgefaßten Meinung passen, mit der jene Kunstschriftsteller an die Bauten der mittelalterlichen Kirche herantreten. Und wenn man keinen Werth auf die Predigt gelegt hätte oder überhaupt nicht gepredigt hätte, warum ist dann der Predigtstuhl, die Kanzel, überall mit einer Liebe behandelt, ja mit einer Pracht ausgestattet, die im ganzen Kircheninnern nur durch das Sacramentshäuschen oder den Altar erreicht oder übertroffen wird?

[8]      In jeder größeren Pfarrkirche wird sonntäglich nicht bloß einmal, sondern zweimal, häufig dreimal gepredigt, und zwar schon in den frühesten Morgenstunden, um 6 Uhr womöglich, damit jedermann die Gelegenheit geboten ist, eine Predigt zu hören. Und diese Gelegenheit wird Sonntag für Sonntag eifrig benutzt. Man gehe doch hinein in die Kirchen und überzeuge sich, wenn man es durchaus nicht glauben will. Und so ist es in Deutschland wie in Italien und Oesterreich, in Frankreich und in Belgien wie in Spanien und in Holland. Mittelalterliche Pfarrkirchengrundrisse der geschilderten Art in mehr oder minder geschickter Anordnung finden sich daher auch überall. Würden die Inventare der preußischen Baudenkmäler Abbildungen dieser Kirchen enthalten, so würde man diese nur aufzuschlagen brauchen. Leider ist es nicht der Fall, man muß sich also anderweit umsehen. In Grueber „Böhmen“ hätte Gurlitt, der selbst dieses Buch so häufig anführt, an hundert derartige Pfarrkirchengrundrisse finden können.

     In der romanischen Zeit findet man viel einschiffige, kurze Kirchen, die bei kleineren Gemeinden sehr zweckmäßig für Messe und Predigt sind. Böhmen war damals noch sehr schwach bevölkert. Hätte Gurlitt diese Grundrisse nicht insgesamt übersehen — sie sind ihm wohl „verkümmert“ und zu unansehnlich vorgekommen —, so würde er gleich dabei gelesen haben (Band I Seite 38): „Einer ungleich höheren Durchbildung hat sich die einschiffige Halle zu erfreuen“, die er, wie wir sehen werden, den Albigensern zuschreiben möchte. Ich führe nur St. Matthias in Bechin, St. Bartholomäus in Kondrac, St. Gallus in Poric, St. Jacob bei Kuttenberg an (die letztere Kirche ist datirt, im Jahre 1165 wurde ihr Hochaltar geweiht); ferner St. Wenzel in Jircan, St. Philipp und Jacob in Smichow, die Pfarrkirche in Kyje, St. Johann in Weißkirchen, St. Peter und Paul in Bohnitz. Bei allen diesen Kirchen ist von denjenigen Eigenschaften nichts zu finden, die Gurlitt Heiligencult, Processionen und alleinigen Meßdienst anzuzeigen scheinen.

     Um weiteren mißverständlichen Einwürfen zuvorzukommen, sei gleich hier erörtert, warum nicht mehr romanische Pfarrkirchen übrig geblieben sind. In der früheren Zeit waren [9] natürlich die meisten Kirchen, selbst die größten Pfarrkirchen aus Holz erbaut; denn die Bevölkerung war noch sehr dünn gesät und verhältßmäßig arm. Nur die großen Klostergemeinschaften, welche die Länder anbauten, Cultur und Wissenschaften hegten und verbreiteten, konnten sich den Luxus der Steinbaues gestatten. Aber auch sie errichteten anfangs meistens Holzbauten, woher die so häufige Unsicherheit in der Zeitstellung der darauf folgenden Steinbauten. Jene Holzbauten bestanden öfters, selbst in großen Städten, bis ins 14. Jahrhundert, einige von ihnen haben sich sogar bis in unsere Tage herüber gerettet.

     Aus der Uebergangszeit führt Grueber gleich als erstes Beispiel St. Jacob in Iglau auf, eine Pfarrkirche mit Stiftsherren als Pfarrern, daher der tiefere Chor. Die Gemeinden sind nun größer geworden; deshalb greift man zur dreischiffigen Kirche, da man den fast quadratischen Zuhörerraum nicht anders überwölben konnte. Die Pfeiler sind noch ziemlich dick, eine Folge der in jener Zeit noch nicht überwundenen Aengstlichkeit und Unsicherheit der Technik. Die spätere Zeit formte diese Pfeiler mit erstaunlichster Kühnheit so dünn, wie wir sie heutzutage mit den Hülfsmitteln unserer Wissenschaft kaum auszuführen wagen würden. Die Technik war eben vorgeschritten, liturgische oder häretische Neuerungen hatten darauf nicht den geringsten Einfluß.

     Die weitere Entwicklung der Pfarrkirchen Böhmens kann in Gruebers ebenso anregendem wie belohnendem Werke leicht verfolgt werden. Hier sei nur noch folgendes hervorgehoben. Diejenigen Pfarrkirchen, welche von reichen Städten oder Körperschaften errichtet wurden und groß angelegte, weitläufige Räume aufweisen, sind für gewöhnlich nicht nach unseren Gewohnheiten benutzt worden, d. h. es brauchte nicht wie heutzutage, wo die Gemeinden übergroß angewachsen sind, jeder Platz und jeder Winkel ausgenutzt zu werden. Die thurmreichen alten Städte hätten die Anschauung längst benehmen müssen, daß diese Kirchen, deren jede Tausende von Andächtigen aufzunehmen vermochte, sonntäglich vollständig gefüllt gewesen seien. Die alten Stadtmauern stehen häufig noch oder sind ihrem Umfange [10] nach genau bekannt. Da wohnt selbst heutzutage in den ungleich höheren, also dichter besetzten Häusern noch nicht ein Drittel der Bevölkerung, welche erforderlich wäre, diese dicht beieinander stehenden Kirchen auch nur annähernd zu füllen. In diesen Kirchen waren die Seitenschiffe stattliche Gänge, im Sinne der bei den heutigen protestantischen Kirchen beliebten kleinen und verhältnißmäßig niedrigen Seitengänge durch die Strebepfeiler, und nur die Mittelschiffe dienten beim Hauptgottesdienste den Gläubigen zum Aufenthalt. Das waren keine geldknappen Bedürfnißbauten, sondern stolze, aufwendige Werke, die den an sie gestellten Anforderungen in monumentalster Weise gerecht wurden. Hätte man damals keinen oder nur geringen Werth auf die Predigt gelegt und hätte man nur „Meßkirchen“ bauen wollen, dann wären von den verständigen und praktischen Bauleuten des Mittelalters — wie sie Gurlitt selbst nennt — ganz andere Grundrisse entworfen worden. Dann hätte man einschiffige Kirchen gebaut, die man bei 10 bis 11 m lichter Breite auch in den kleineren mittelalterlichen Städten noch ohne besondere Schwierigkeiten überwölben konnte; man hätte Grundrisse gezeichnet, die sich im Aufbau viel leichter künstlerisch ausbilden ließen, in allen Stilen, besonders aber in der Gothik, man hätte aber nicht quadratische Grundrisse gewählt, die bekanntlich einer befriedigenden Aufbaulösung die größten Schwierigkeiten bereiten. Es wären dann aber Grundrisse entstanden, die eine zwar für den Blick auf den Hochaltar und das Beiwohnen der Messe recht günstige, für das Anhören der Predigt aber sehr ungeeignete Länge erhalten hätten. Immerhin würde diese Länge nimmermehr 90 m betragen haben, wie bei der einschiffigen Kathedrale von Alby (s. Abb. S. 20), die Gurlitt für eine von „katholischen“ Capellen umgebene Predigtkirche hält (!)[1] Wie würde das Gutachten [11] unserer heutigen Akademie des Bauwesens wohl ausfallen, wenn ihr der Plan von Alby als der einer Predigtkirche vorgelegt würde, ein Grundriß, der der allbekannten und sehr alten Erfahrung widerspricht, daß bei einer Predigtkirche der entfernteste Platz nicht über 33 m vom Redner abliegen, und daß daher ihr Zuhörerraum nicht viel über 40 m Länge haben darf, wenn überhaupt noch etwas von der Predigt verstanden werden soll.

     Auf diesem großen Mißverständniß baut nun Gurlitt sein ganzes Gebäude auf, und zwar wiederum mit Hülfe anderer Mißverständnisse.

     Wie kommt er darauf, daß die Kathedrale von Alby durchaus eine Predigtkirche sein müsse? Hauptsächlich wohl, weil sie keine Innenpfeiler hat; dann aber, weil sie von vielen anderen, zumeist bekannten mittelalterlichen Kathedralen abweicht und dabei im Land der von Rom abgefallenen Albigenser liegt. Daß diese Kathedrale aber erst gegen 1350 begonnen ist,[2] daß sie also erst 120 Jahre nach vollständiger Unterdrückung der Albigenser begonnen und im 15. Jahrhundert überhaupt erst vollendet ist, das hält Herrn Gurlitt nicht ab, sie als unter albigensischem Einfluß entstanden hinzustellen. Ebenso wie es ihn nicht hindert, die einschiffigen Kirchen des Languedoc, die doch schon Jahrhunderte vor dem Auftreten des Petrus Waldus, des geistigen Vaters der Albigenser, dort und in den benachbarten Gegenden gang und gäbe waren, trotz alledem erst als durch albigensischen Einfluß entstanden hinzustellen. Die Kirchen in Pouliac, Cahors (gegen 990), Angoulême (Anfang 12. Jahrhunderts), Trémolac, Saint-Avit-Sénieur, Salignac, Fréjus, Saint Émilion, Fontevrault, Puy en Velay, Angers (1145—65), S. Hilaire in Poitiers, Notre Dame des Doms in Avignon, Notre Dame de la major in Marseille (12. Jahrhundert) liefern dafür den Beweis (vgl. d. Abb. auf S. 23). Die Bauten mögen hundert Jahre vor dem Auftreten der Albigenser schon dagewesen oder ebensoviel Jahre nach ihrer Unterdrückung [12] von ihren Gegnern, die erbitterte Kriege zu ihrer Vernichtung geführt hatten, errichtet worden sein: die Albigenser haben sie erfunden, weil Gurlitt irrthümlicherweise glaubt, nur die Evangelischen besäßen die Predigt und die Kathedrale von Alby sei eine Predigtkirche.

     Oder sollten etwa die Lungen der für Rom eifernden Cistercienser und Dominicaner diesem Raum eher gewachsen gewesen sein? Auch sie würden es bald aufgegeben haben, sich in einem solchen Raume abzuquälen mit Predigten, die der Hälfte der Zuhörerschaft unverständlich bleiben mußten, falls überhaupt der Raum gefüllt war. Und war er nicht darauf berechnet, gefüllt zu sein — warum baute man denn die „Predigtkirche“ ums doppelte zu lang? — Einfach, weil sie eben gar keine Predigtkirche sein sollte, sondern eine Kathedrale, die sich der Bischof für sich und seine Bedürfnisse erbaute, eine richtige bischöfliche Kirche, deren Programm sie auch bestens und vollständig erfüllt, ein Programm, in welchem, wie gleich gezeigt werden wird, das Bedürfniß der Predigt erst an zweiter Stelle auftritt. Oder ist etwa das Programm des neuen Berliner Domes das einer evangelischen Predigtkirche? Kommt die Pfarr- und Predigtkirche hierbei nicht erst in zweiter Reihe in Betracht? Und wird die Predigtkirche wegen der zuvörderst und hauptsächlichst zu erfüllenden Programmpunkte dabei nicht schließlich geschädigt hervorgehen?

     Genau so verhält es sich mit den Kathedralen und klösterlichen Kirchen des Mittelalters. Die Kathedrale hat als die Kirche des Bischofs und seiner Domherren zuerst den Bedürfnissen dieser zu genügen. Die Domherren, also die Räthe des Bischofs bei der Verwaltung des Sprengels, haben als Geistliche jeden Tag — ganz bestimmte Fälle nur ausgenommen — die Messe zu lesen. Da dies nüchtern zu geschehen hat und die Tagesgeschäfte ihrer Erledigung harren, so muß in der Kathedrale die Möglichkeit geschaffen werden, daß diese vielen Geistlichen frühmorgens fast alle zur selben Zeit Messe lesen können, d. h. es muß eine große Anzahl Altäre zur Verfügung stehen. Daher die vielen Nebenaltäre, nicht der wachsenden Heiligenverehrung halber.

[13]      Das gleiche Bedürfniß liegt auch den allermeisten Klosterkirchen-Programmen zu Grunde; denn auch dort, wo die Klostergemeinschaft aus vielen Geistlichen besteht, muß diesen Gelegenheit geschaffen werden, in aller Frühe fast gleichzeitig Messe zu lesen. Davon kann man sich in jeder Kathedral- und Klosterkirche auch heutzutage noch überzeugen. Freilich muß man dazu früh aufstehen; in späterer Tagesstunde können ja die vielen unbenützten Altäre Nichtunterrichtete irreführen.

     Nun lassen sich solche Altäre in verschiedener Weise aufstellen: an Pfeiler oder an die Seitenwände oder frei in den Raum. Das sind die einfachsten und ursprünglichsten Anordnungen. So zeigt es schon der Grundriß von St. Gallen um 800, und so ist es auch später geschehen, wenn die Mittel knapp waren. Die mittelalterlichen Baumeister, die künstlerisch wie praktisch auf hoher Stufe standen, vermochten dieses rein zufällige Hinstellen der Altäre aber nicht als künstlerische Lösung anzusehen. Sie suchten deshalb nach einem Ausdruck im Grundriß. Für den Altar war seit Beginn des Christenthums die Apsis der geheiligte Ort, was lag näher, als auch den Seitenaltären Apsiden zu geben! Daher die Capellenreihen und die Capellenkränze, die sich um das Chorhaupt bezw. an den Kreuzflügeln oder der Längswand der Seitenschiffe vorfinden. Bei Klosterkirchen mögen sie zuerst entstanden sein; denn die Geistlichen des Bischofs brachten in früherer Zeit nicht jeder für sich das Meßopfer besonders dar, sondern sie assistirten dem Bischof und communicirten dabei. Bei Kathedralen trat also das Bedürfniß nach vielen Altären erst später auf.

     Außer der Messe müssen Domherren wie Klostergeistliche gemeinsame Gebete zu gewisser Tageszeit wie auch des Nachts abhalten. Hiefür müssen lange gegenüberstehende Sitzreihen geschaffen werden. Daher das Chorgestühl, und zu seiner Aufnahme bei Kathedralen und Klosterkirchen, auch bei Pfarrkirchen mit Klostergeistlichen als Pfarrherren die langgestreckten Chöre.

     Da es störend wäre, wenn sich Andächtige oder lästige Gaffer zwischen diesen Chorstuhl-Reihen drängten, so wird der [14] Raum, in dem sie sich befinden, seitlich durch Chorschranken, gegen das Schiff durch den Lettner oder ein Gitter geschlossen. Die Schranken sollen nebenbei Zug und Kälte abhalten; mit der Meßhandlung haben sie gar nichts zu thun.

     So lange nicht der reiche Capellenkranz nebst Umgang den Chor umsäumte, standen die Chorstühle geschützt „im langen Priesterchor“ an den Wänden, wie bei Pfarrkirchen mit Klostergeistlichen als Pfarrherren, und bedurften der Schranken nicht. Als die Capitel in die neuen gothischen Kathedralen eingezogen waren, schützten sie sich zuerst durch Teppiche oder aufgespannte Stoffe, die dorsalia. Doch müssen diese dorsalia nicht genügenden Schutz gewährt haben, denn man ging bald wieder zu festen, seit Anfang der Christenheit für diesen Zweck gebräuchlichen Schranken über. Das ist kein neuer Cultus, keine Veränderung, man hatte nur Erfahrungen im neuen Hause gesammelt.

     Gurlitt behauptet, in Deutschland seien erst im 14. Jahrhundert die Chorschranken und Lettner vorzugsweise entstanden. Beweise führt er nicht an. Es mag sein, daß diejenigen, welche er kennt, aus dieser Zeit stammen, der Schluß, daß vorher keine dagewesen seien und die Priesterschaft sich damals erst „vom Volke abzuschließen anfing“, ist vollständig irrig. Schon in frühchristlicher Zeit waren die Chorschranken, wie gesagt, vorhanden, jedermann kennt sie z. B. aus S. Clemente in Rom. Diese rühren mindestens aus dem 8. Jahrhundert her, denn sie tragen den Namenszug des Papstes Johann VIII.; wahrscheinlich sind sie sogar aus dem 5. oder 6. Jahrhundert, und von Johann VIII. nur wiederhergestellt. Sie sind niedrig, schützen wenig vor Zug und Kälte; daher finden sich für den Winter auch häufig besondere geschlossene Räume als Winterchöre; so u. a. bei S. Maria in Cosmedin. Vielleicht saßen hierbei auch die Priester im Presbyterium getrennt von den Diakonen und Sängern im Chor. Später sitzen sie voreinander in Stuhlreihen. Wer kennt nicht die schönen Chorschranken und Lettner in St. Michael zu Hildesheim, im Dom zu Trier, in Halberstadt, Naumburg, Gelnhausen usw., die doch nicht erst ans Ende des 14. Jahrhunderts verlegt werden können!

[15]      Meistens stehen diese Chorstühle, wie gesagt, im Chor. Sind viele Geistliche vorhanden, so erstrecken sich die Stuhlreihen über das Kreuzschiff in das Langschiff, manchmal stehen sie überhaupt im Langschiff, je nachdem sich dies aus Ort und Benutzung praktisch erwies. Das ist aber keine Besonderheit des Languedoc oder Spaniens, wie Gurlitt glaubt, es findet sich vielmehr überall. Daher ist das Kreuzschiff keineswegs eine Trennung des Priesterchors vom Laienhaus, im Gegentheil: die Kreuzschiffe der Kathedralen waren meistens den Laien eingeräumt, daher diese Kreuzschiffe auch nichts specifisch „katholisches“ sind, den Begriff „Katholik“ im Sinne Gurlitts genommen. Denn Gurlitt liebt es, den Worten einen anderen Sinn beizulegen als gebräuchlich. Seite 319 schreibt er: „Ich muß hier bemerken, daß ich unter „evangelisch“ natürlich nicht die protestantischen Landeskirchen und deren besondere, nach der Reformation geschaffenen Liturgieen meine.“ … Ebenso versteht er unter „katholisch“ nur die Bischöfe, den Meß- und Heiligencult, die Processionen und wer weiß welches selbstgeschaffene Gebilde. Unter Ketzern versteht er nicht Christen, die sich von Rom getrennt haben — er rechnet auch die Muhamedaner zu den Ketzern!

     Nachdem in der Kathedrale das Bedürfniß der Bauherren wie oben gezeigt erfüllt ist, tritt nun in ihr erst das Pfarrkirchenbedürfniß auf und wird befriedigt. Vor den Abschluß des Chorraums gegen das Schiff hin, den Lettner, wird ein Altar gestellt; dort wird die Messe ohne andere Sonderung von den Laien als durch die Communionbank, wie in jeder Pfarrkirche, sonn- und wochentäglich für die Gläubigen gelesen; dort wird auch die Kanzel errichtet und allsonntäglich für das Volk gepredigt. Da außerdem bei großen Festen oder bei den dem Bischofe vorbehaltenen Handlungen, z. B. der Firmung, auf den Besuch der Kathedrale durch die Gläubigen aller Pfarreien in der Stadt und des angrenzenden Landes zu rechnen ist, so muß noch überdies viel verfügbarer Raum in der Kathedrale vorhanden sein. Das ist das Programm, welches die Kathedralgrundrisse hervorgerufen hat und durch diese herrlich erfüllt worden ist. Und dieses Programm erfüllt auch der [16] Grundriß der Kathedrale von Alby bestens. In ihr ist der Raum für die Domherren, der Chor, vorhanden, auch die Capellen finden sich ringsum, und vor dem Lettner sind gerade noch 40 m für die Laienkirche übrig, dieser letzte Theil also äußerst zweckmäßig für den Pfarrgottesdienst mit seiner Predigt.

     Herr Gurlitt hält auf Grund der geschilderten Mißverständnisse bezüglich der Einrichtungen der Kirche des Mittelalters für evangelisch, was thatsächlich katholisch ist — in Theorie und Praxis, im Mittelalter wie in der Jetztzeit. Uebrigens lohnt es sich noch, einen Blick auf das zu werfen, was denn der Genannte unter evangelisch versteht. Er versteht darunter „jene allgemeine kirchliche Richtung, die den katholischen Autoritäts- und Traditionsgrundsätzen, dem Meß- und Heiligendienste die gläubige Prüfung der Evangelien als religiöse Grundlage entgegensetzt.“ Also Episteln, Apostelgeschichte, altes Testament sind schon ausgeschieden. Herr Gurlitt muß sie auch aufgeben, da er sonst die Albigenser nicht unter den Begriff „evangelisch“ bringen könnte. Denn diese hielten das alte Testament für eine Kundgebung des bösen Geistes und verwarfen auch im neuen Testament alles außer den Evangelien. Ihre Ansichten über die Ehe und die „letzte Tröstung“ gingen zudem so schnurstracks den Ansichten der heutigen Protestanten entgegen, daß man behaupten und erweisen kann, Albigenser und Evangelische haben auch nicht den zehnten Theil dessen gemeinsam, was Protestanten und Katholiken glücklicherweise eint.

     Doch kehren wir zu unseren Pfarrkirchen und Kathedralen zurück. Wenn auch der Grundriß von Alby dem Kathedralprogramme bestens entspricht, ob in künstlerischer Beziehung diese einschiffige Halle gerade eine vollkommene Lösung des Kathedralprogramms darstellt, ist die Frage. Die Kunst mußte hierbei auch zu kurz kommen, da Sparsamkeit und Vertheidigung den Aufriß vorschrieben. Sparsamkeit, denn das Land war durch die Albigenser Kriege ausgeplündert und ausgeraubt wie später Böhmen und die Nachbarländer durch die Hussitenkriege und wie das unglückliche Deutschland durch den 30jährigen Krieg. Auch folgten darauf die langen Kämpfe mit Aragon. Daß ein einschiffiger Bau erheblich billiger ist als eine drei- und [17] mehrschiffige Anlage, weiß jeder Sachverständige. Wir sehen daher später nicht bloß in Alby, sondern allerwärts im Languedoc sparsame einschiffige Anlagen entstehen. Gerade so gut wie die in früherer Zeit oder aus Sparsamkeitsrücksichten beliebte Stellung der Altäre frei in den Raum als keine eigentliche Lösung zu betrachten ist, so kann auch die freie Stellung der Chorschranken in dem Raume, gleichsam wie ein bloßes Möbel, als keine „Lösung“ gelten. Der Umgang war in den Kathedralen nothwendig (nicht in allen Klosterkirchen), und man konnte die Chorschranken nicht dicht an die Capellen stellen, weil die Domherren kein der Welt abgekehrtes Leben führten, wie einige Klostergemeinschaften. Es sollte dem Volke möglich sein, jedem der dargebrachten Opfer beiwohnen zu können. Daher bei bischöflichen Kirchen um jeden Chor, um welchen Capellen angeordnet sind, zwischen diesen und den Chorschranken ein Umgang. So entstand die bekannte Grundrißform eines Kathedralhauptes. Daher sind auch bei Orden, die für die Belehrung und Pastorirung des Volkes gegründet sind, alle Capellen dem Volke so bequem als möglich zugänglich gemacht; meistens ordnete man sie an den Seitenwänden zwischen den Strebepfeilern an, weil sie so die Predigtkirche noch am wenigsten beeinträchtigten und am billigsten herzustellen waren. Dagegen finden sich diese Capellen unzugänglich für das Volk, und zwar meistens in den Kreuzarmen angeordnet bei denjenigen Orden, die ein der Welt abgekehrtes Leben führten. So praktisch entworfen waren diese Grundrisse, d. h. so genau ihrem Zwecke angepaßt, daß man auch umgekehrt aus ihnen die innersten Gewohnheiten der Nutznießer herauslesen kann.

     Da für den durch die Chorschranken eingeschlossenen Raum etwa 10 bis 12 m Breite erforderlich waren, eine größere Spannung der Gewölbe bei den bedeutenden Höhen aber nur mit großer Gefahr und Schwierigkeit auszuführen war, so stellte man die ersten Stützenreihen naturgemäß an diese Chorschranken, ließ dann den Umgang, falls ein Capellenkranz angeordnet ist, und weiter letzteren selbst folgen. Das war eine künstlerische Lösung, denn alle Erfordernisse waren im Grund- und [18] Aufriß zum Ausdruck gebracht. Diese künstlerische Lösung fehlt bei Alby. Wenn Gurlitt aber sagt, daß diese Chorschranken durch den Bischof von Alby nachträglich so gut und so schlecht es ging, hineingesetzt worden seien, so irrt er. Der Grundriß von Alby entstand, wie wir schon anführten, aus Sparsamkeit, dann auch aus Gründen der Ueberlieferung und, wie gleich erörtert werden soll, mit Rücksicht auf die Befestigung. Die Kathedrale sollte als Festung dienen. Den Thurm bildet ein riesiger Donjon ohne jede Oeffnung in seinen Untergeschossen. Ebenso unzugänglich ist das Schiff. Seine Fenster sind klein und schmal, ein innerer Umgang ist zur Vertheidigung angebracht. (Gurlitt schreibt irrthümlich, die Capellen gingen ohne Unterbrechung bis oben hinauf.) Nur ein Eingang, stark verwahrt, läßt die Andächtigen ein, und der vom bischöflichen Schlosse führt durch die befestigten Sacristeien. Kurz, wir haben es mit einem befestigten Gotteshause der stärksten Art zu thun. Hätte man da ein basilicales System verwandt, wie sonst bei den mit Strebebögen ausgestatteten Schwesterkathedralen, dann würde dem Feinde die Zerstörung eines solchen Bogens genügt haben, um den ganzen Bau zum Einsturz zu bringen. Den mittelalterlichen Baumeistern war der Schloß- und Festungsbau sehr geläufig, und sie waren sich über diesen schwachen Punkt des üblichen Kathedralquerschnittes vollkommen klar; der Baumeister von Alby wählte daher den sicheren Querschnitt, den er noch dazu aus alter Zeit vor Augen hatte. Aus ähnlichem Grunde wuchsen wohl auch später in jenen Ländern, die von den hussitischen Horden zu leiden hatten, so zahlreich Hallenkirchen aus der Asche der niedergebrannten Städte empor; denn die Basiliken hatten sich den Feuersbrünsten gegenüber als nicht sehr widerstandsfähig gezeigt. Die Strebesysteme gaben überdies, wenn man nicht über sehr wetterbeständigen Stein verfügte, fortwährend Anlaß zu Erneuerungen, und mit gleichem Kostenaufwande ließen sich stolzere und mächtigere Bauwerke erzielen. So erklärt sich alles abweichende und scheinbar befremdende an der Kathedrale von Alby ungezwungen und von selbst, wenn man sie nur mit Kenntniß des Kathedralprogramms, ohne vorgefaßte Ansichten und Vorurtheile betrachtet.

[19]      Der Wichtigkeit der Sache wegen sei es gestattet, das Ergebniß noch einmal kurz zusammenzufassen: Der 90 m lange, einschiffige Raum der Kathedrale von Alby ist als Predigtkirche allein vollständig unbrauchbar. Wenn es überhaupt reine „Meßkirchen“ gäbe, was nicht der Fall ist, so wäre gerade Alby der Typus einer solchen Meßkirche. Alby ist aber weder als Predigtkirche noch als Meßkirche errichtet, sondern als Kathedralkirche und erfüllt in ihrem Grundrisse sehr vollkommen deren Programm. Um den Chor wie an den Langseiten sind die erforderlichen Capellen angebracht. Im Chor liegt der übliche, auch ganz wie überall sonst hergerichtete Raum für das Chorgestühl, und ihn umgiebt der für die Zugänglichkeit der Capellen erforderliche Umgang. In den Schranken steht aber hier, abweichend von dem sonstigen Gebrauch, keine Stützenreihe, weil man für die Festungskirche das gefährliche Strebesystem nicht anwenden konnte, und weil man insbesondere in dem ausgeplünderten Lande billig bauen mußte und überdies von Römerzeiten her die großen einschiffigen Räume vor Augen hatte. Vor dem Lettner endlich ist ein Raum gewonnen, der mit seiner Länge von 40 m für den Pfarrgottesdienst und insbesondere für die Predigt durchaus geeignet ist. Alles durchaus praktisch, selbstverständlich und genau dem mittelalterlichen bischöflichen Kirchenprogramme entsprechend.

     Wirft man hiernach einen Blick auf die umstehenden, durchweg in dem gleichen Maßstab (1:1000) gezeichneten Grundrisse, so drängt sich vorerst dem Auge die Thatsache auf, wie zwergenhaft klein die Pfarrkirchengrundrisse sind gegenüber denen der Kathedralen. Diese vergleichende Nebeneinanderstellung macht schon an und für sich den Beweis überflüssig, daß diese grundverschiedenen Gebäude je gleichen Zwecken gedient haben können. Dagegen unterscheiden sich die katholischen Pfarrkirchen des Mittelalters in ihrer Ausdehnung wenig oder gar nicht von ihren protestantischen Schwestern der Neuzeit, von denen eine der bedeutendsten, die Heiligkreuzkirche in Berlin, mit dargestellt ist. Vergleicht man diese denselben oder ähnlichen Zwecken dienenden Gebäude, so erhellt, daß die Predigtkirchenform des Mittelalters den heutigen [20]

Cluny.

St. Cécilie in Alby.

Pontigny.

Frauenkirche in Nürnberg.

Heiligkreuz-Kirche in Berlin.

[21]

Kathedrale von Narbonne.

Marienkirche in Herford.

Dom in Prag.

Wiesenkirche in Soest.

[22] Lösungen durchaus nicht so minderwerthig gegenübersteht, obgleich man heute bei weitem besser zu rechnen versteht.

     Zur Begründung seiner Ansichten über den Entwicklungsgang der Gothik führt Gurlitt nun aber noch so viele andere Mißverständnisse auf, daß ein Eingehen auf dieselben, wenigstens auf die der Abschnitte IV und V, nicht unterlassen werden kann.

     Professor Josef Neuwirth hat schon im ersten Heft des Jahrgangs 1893 der Zeitschr. f. Bauwesen viele Irrthümer in Bezug auf den zweiten Baumeister des Prager Domes widerlegt. Hier sei noch auf folgende eingegangen. Gurlitt schreibt: „Die Vergleichung der Grundrisse ergiebt zunächst eine auffällige Aehnlichkeit zwischen den Domen in Prag und in Barcelona“ (S. 316). Nun ist aber von auffälliger Aehnlichkeit keine Rede. Wie Gurlitt selbst anführt, sind statt sieben Capellen am Polygon in Barcelona deren nur fünf in Prag. Das ist keine auffällige Aehnlichkeit, sondern ein einschneidender Unterschied; denn bei fünf Capellen fallen diese groß und bedeutend gegenüber der Chorapsis aus, während sie bei sieben Capellen sehr zu kurz kommen und die künstlerische Lösung sich viel ungünstiger gestaltet. Nach Gurlitts Auffassung bestände dann auch eine überraschende Aehnlichkeit zwischen Rheims und Prag, zwischen Amiens und Prag, kurz, zwischen allen Capellenkränzen der gothischen Kathedralen. Statt zweier rechteckigen Capellen an der Längsseite des Chors, wie in Barcelona, sind ferner in Prag fünf vieleckige vorhanden. Auch das soll eine Aehnlichkeit sein. Außerdem meint Gurlitt, diese Capellenreihen an den Langseiten der Chöre hätten ihren Ursprung im Languedoc. Den Beweis bleibt er schuldig; aber der Gegenbeweis ist leicht. Diese Capellenreihen an den Langseiten sind schon bei den Chören der Kathedralen von Noyon (nach 1150), Soissons (anfangs 1200), Tours (anfangs 1200) zu finden. Dies sind alles keine Bauten des Languedoc. Diejenigen Kathedralen des Languedoc aber, die diese Capellenreihen am Chor aufweisen, nämlich Clermont en Auvergne (1268), Limoges (um dieselbe Zeit) und Narbonne (1272), sind später als obige nordfranzösischen und vollständig nordfranzösisch [23]

Kathedrale von Cahors.

Kathedrale von Angers.

Kathedrale von Angoulème.

Maßstab 1:1000.

[24] nach Stil, Grundriß und Baumeister, sodaß sie ebenfalls nichts für das Languedoc beweisen, im Gegentheil gegen den Ursprung dieser Capellenreihen im Languedoc Zeugniß ablegen.

     Ein weiterer Punkt der Uebereinstimmung soll die Anordnung des wenig bedeutenden Querhauses sein. Das südliche Querschiff des Prager Domes springt aber um ein Gewölbejoch vor die Capellen vor, das zu Barcelona dagegen springt gar nicht vor. Daß das nördliche in Prag nicht ebensoweit hervortritt, liegt an der Oertlichkeit. Uebrigens springt in Paris, Rheims, Clermont, Limoges und Narbonne das Kreuzschiff auch nicht vor, genau wie in Barcelona. Gerade so wie in Prag aber ragen schon die Kreuzschiffe von Chartres, Amiens, Beauvais, Troyes, Autun, Sens, Bayeux u. a. ein Joch über die Capellen hervor, alles Kirchen, die nicht im Languedoc liegen. Also auch diese besondere Eigenthümlichkeit des Languedoc ist nicht vorhanden. Auch beruht die Ansicht, daß die Kreuzschiffe unentschieden vorspringen, auf Mißverständniß. In den in Büchern abgebildeten Grundrissen ist freilich, und zwar bei der überwiegenden Mehrzahl aller Kathedralen, der Vorsprung nicht bedeutend. In Wirklichkeit springen diese Kreuzschiffe aber sehr entschieden vor, da die Capellen niedrig liegen bleiben.

     In Barcelona, schreibt Gurlitt, ist der Chor als Halle ausgebildet, und weiter: „Prag hat diese Eigenschaft nicht. Wir müssen uns nun die Frage vorlegen, ob es möglich ist, daß auch der Prager Chor ursprünglich als Halle gedacht war. Nach der technischen Seite spricht nichts dagegen“ (S. 317). Es spricht aber von technischer und obendrein von geschichtlicher Seite alles dagegen. Denn als Matthias von Arras starb (1352), war der Capellenkranz schon so weit vorgeschritten, daß eine Capelle, welche der Erzbischof Arnest gestiftet hatte, bereits fertig war. Das wäre dann aber eine recht niedrige Kathedrale des Kaisers geworden, wenn sie nicht höher als diese Capellen geplant gewesen wäre. Anderenfalls hätte ja der Umgang die Höhe des Mittelschiffes erhalten müssen und dann hätten die Arcaden der polygonalen Chorwand Höhenverhältnisse erhalten, [25] die unmöglich waren. Gurlitt hätte aus den von ihm selbst aufgeführten Hallengrundrissen leicht ersehen können, daß wenn der Umgang als Halle um den Chor herumgeführt werden soll, man breite Arcaden im Chorpolygone selbst haben muß. Daher können bei solchen Hallenumgängen höchstens drei Polygonseiten vorhanden sein. Wie mißlich es selbst mit drei Seiten noch immer ist, zeigt der Querschnitt von Zwettl. Allein richtige Lösungen für Chorhallen haben die Frauenkirche in München, die Hauptkirche in Guben und ähnliche Anlagen. Die Seitenschiffsverhältnisse kommen hierfür erst in zweiter Linie in Betracht. Diese Halle um den Chor schreibt Gurlitt auch dem Languedoc zu, aber ebenfalls ohne nähere Beweise anzuführen. Sie wird daher ebenso wenig dem Languedoc besonders angehören, wie die an den Seiten der Chöre befindliche Capellenanlage, das unentschiedene Kreuzschiff usw. Ferner heißt es Seite 317 „Hier (in Kolin) führte Peter mit aller Entschiedenheit den Umgang als Halle durch.“ Kolin hat aber gar keinen Hallenumgang; der Umgang ist, wie in Prag usw., basilical, d. h. nur in Höhe der Capellen herumgeführt.

     Die letzte ganz besondere Aehnlichkeit, die bestehen soll, ist der einzige Thurm an der Südseite, der Prag und Barcelona gemeinsam ist. Daß in Prag nur ein Thurm an der Südseite steht, daran ist der große Brand von 1541 schuld, da der Thurm an der Nordseite damals abgebrannt ist. Also auch diese „häretische“ Verbindung zwischen Prag und Barcelona ermangelt der Thatsache. Ebenso überraschend, wie alle diese Aehnlichkeiten zwischen Prag und Barcelona, ist die Behauptung, der Chor von Gerona sei das rechte und echte Vorbild von Prag. Dieser hat ebenfalls keinerlei besondere Aehnlichkeit mit Prag, wie ein vergleichender Blick auf beide Grundrisse bestätigen wird. Ebensowenig sind die Chorhäupter von Cluny und Pontigny Vorbilder von dem zu Alby, wie Gurlitt behauptet. Ein Blick auf dieselben zeigt drei vollständig verschiedene Anlagen. (Vgl. d. Abb. auf S. 20/21.)

     Wenn man nun durchaus den Pfad der Kunstforscher betreten, d. h. nachforschen will, welches Bauwerk Matthias von [26] Arras wohl nachgeahmt habe, so ergiebt sich die Kathedrale von Narbonne als fast genaues Ebenbild von Prag, ist zudem auch früher begonnen (1272; Karl IV. nahm Matthias 1344 von Avignon mit nach Prag). Und Viollet-le-Duc ergänzt Narbonne genau so, wie Grüber auf Grund der Ausgrabungen den Dom von Prag. Selbst die nicht übliche und sehr in die Augen fallende Grundrißform der Strebepfeiler von Narbonne tritt am Prager Dome an der Südseite auf. Bei diesen beiden Grundrissen ist überraschende Aehnlichkeit aller Theile vorhanden, während diese zwischen Prag und Barcelona durchweg fehlt. (In den Kunstformen, will ich gleich hinzufügen, ist gar keine Aehnlickkeit vorhanden.) Dort sind dieselben fünf Capellen um das Chorpolygon; dort sind an den Langseiten des Chors ebenfalls Polygonal-Capellen fast in derselben Zahl, nur vier statt fünf; dort ist der Umgang basilical in Höhe der Capellen angeordnet usw. Also doch ein Vorbild aus dem Languedoc? Ja, aber was bewiese denn das? Nichts, wie wir jetzt wissen. Und zwar um so weniger, als ja eine „überraschende“ Aehnlichkeit dieses Narbonnenser Chorhauptes mit denen von Noyon, Soissons, Tours, Pontigny, St. Germain des Près besteht, die alle mitten im Lande der römischen „ecclesia triumphator“ (!) liegen, und nicht im Languedoc.

     Weiter behauptet Gurlitt, der geschlossene Umriß des Capellenkranzes um dem Chor von Kolin wie bei St. Barbara in Kuttenberg weise ebenfalls auf das Languedoc. Nun hat aber nicht einmal Alby diesen einheitlichen Schluß — andere führt er nicht an —; dagegen haben diesen Schluß schon Pontigny und Clairvaux, die ebenfalls im Lande der ecclesia triumphans liegen und nicht im Languedoc, und die viel älter sind als die beregten gothischen Kathedralen oder Klosterkirchen im Languedoc. Auch das den böhmischen Kirchen ganz nahe benachbarte Zwettl hat diesen geschlossenen Umriß.

     Was ist nun von den besonderen Eigentümlichkeiten, die Gurlitt den Kirchen des Languedoc zuschreibt, bestehen geblieben? Wie nachgewiesen, nichts, außer etwa die Einschiffigkeit, die aber, wie gezeigt, vor den Albigensern dort längst ebenso wie im Lande der ecclesia triumphans (wie Cahors und [27] Fontevrault beweisen), in Uebung waren. Sie können auch gar keine besondere, aus Erfordernissen des albigensischen Gottesdienstes hervorgegangene Form sein, da man sie in Italien, wo die Albigenser als Katharer, Patarener usw. zur gleichen Zeit viel verbreiteter waren und wo sie sich viel länger gehalten haben, nicht findet. Diese einzige Eigentümlichkeit des Languedoc nun ist aber gerade weder von Matthias von Arras noch von Peter Parler nach „dem Lande der Hussiten“ gebracht worden; denn alle ihre Kirchen sind wie die aller ihrer nächsten Nachfolger drei- und mehrschiffig (die Karlshofer Kirche ausgenommen, deren Grundriß aber ein großes Achteck bildet).

     Wie bringt nun Gurlitt eine Verbindung dieser einschiffigen Kirchen des Languedoc mit den dreischiffigen Böhmens — die übrigens gerade so sind wie in der ganzen übrigen Christenheit — zu Stande? Er nennt die einschiffige Anlage eine Halle. Die dreischiffigen, nicht basilicalen Anlagen heißen Hallenkirchen — folglich sind sie gleichartig, und folglich sind die drei- und mehrschiffigen Hallenkirchen ebenfalls „Gemeindekirchen“!

     Nun ist es aber für die Versammlung einer Gemeinde, sei es daß sie die Predigt oder die Messe hören will, ganz gleichgiltig, ob über dem dreischiffigen Grundriß eine Basilika oder eine Hallenkirche aufgeführt ist; unten, in Augenhöhe, bleibt die Kirche ganz dieselbe. Warum sollen also gerade Hallenkirchen im Gegensatze zu Basiliken Gemeindekirchen sein? Noch dazu, da es sich in Hallenkirchen meistens viel schlechter hört und predigt als in Basiliken. Sind Hallenkirchen „Gemeindekirchen“, so sind es Basiliken über demselben Grundriß genau ebenso. So ist es auch thatsächlich: auch die dreischiffigen basilicalen Pfarrkirchen sind Gemeindekirchen. Um ein Beispiel anzuführen, finden sich über demselben Grundriß (dem der Theynkirche in Prag) drei verschiedene Querschnitte aufgebaut. Vollständige Hallenkirche: die Theynkirche; die Seitenschiffe etwas niedriger als das Mittelschiff, jedoch ohne basilicales Licht: Emmaus in Prag; eine richtige Basilika: die Stadtpfarrkirche in Glatz. Alle drei Kirchen zeigen, wie selbstverständlich, unten ganz denselben Durchblick. Die drei Grundrisse [28] von Theyn, Emmaus und Glatz lohnen überhaupt eine nähere Betrachtung. Ihre fast ganz gleiche Grundrißgestaltung erweckt an und für sich den Eindruck, als rührten sie von einunddemselben Meister her. Zudem ist die Profilirung fast genau die gleiche, sodaß, wenn man nicht denselben Meister zugeben will, etwa Glatz nur durch einen Schüler und Gehülfen des Meisters der beiden ersteren Bauten gezeichnet worden sein kann. Emmaus und die Theynkirche schreibt man dem Peter Parler zu. Da aber alle drei Bauten in Profilen und Mauerstärken eher dem Untertheil des Prager Domes ähneln als dem Obertheil desselben (der letztere ist in seiner Durchbrochenheit und abweichenden Formenbildung der Fialen usw. fast das ausgesprochene Gegentheil dieser drei Kirchen mit ihren ängstlich starken Mauermassen und ihrer viel älteren Art der Detaillirung), so möchte man viel eher auf Matthias von Arras als auf Peter Parler schließen. Die Theynkirche sowohl wie Emmaus sind bedeutende Bauten, und doch spricht die Inschrift über der Büste P. Parlers im Triforium des Domes bei Aufzählung der Werke desselben nicht von ihnen. Allerdings auch nicht bei Matthias von Arras. Daß sie aber bei diesem nicht angeführt sind, spräche kaum gegen seine Urheberschaft, da der Nachfolger gewöhnlich nicht allzu beflissen ist, die Verdienste des Vorgängers hervorzuheben. Stehen doch auch sonstige Bauten des Matthias von Arras — außer dem Dome selbst — dort nicht aufgeführt. Zudem sind Emmaus und die Theynkirche erst lange nach Matthias fertig geworden und würden wohl von Peter Parler jahrelang besorgt und zu Ende geführt worden sein.

     Doch steht man selbst mit dieser Annahme noch vor anderen Räthseln. Zu dem Slavenkloster, dessen Kirche die Emmauskirche ist, wird der Grundstein bereits im Jahre 1343 gelegt, als Matthias von Arras noch nicht in Prag war (er kam erst 1344 dorthin). Es werden allerdings zuerst nur das Kloster und der Kreuzgang errichtet, und erst gegen 1358 wird die Kirche begonnen, als Matthias schon todt († 1352) und Peter Parler Dombaumeister war. Die Annahme dürfte aber doch naheliegen, daß bei Beginn der Arbeiten ein vollständiger [29] Entwurf, also mit Kirche, vorhanden gewesen ist, dessen Theile nacheinander zur Aufführung gekommen sind. Der begreifliche Ehrgeiz Peters hätte freilich später eine Kirche nach eigenem Entwurfe an Stelle des ersten Planes setzen können. Warum aber dann die Profile, Mauerstärken und die Geschlossenheit vom Untertheile des Domes und nicht die Auflösung und Profilirung vom oberen Theile desselben und von Kolin? Der Beginn des Baues der Theynkirche ist ganz unsicher. Sie kann ebenso unter Matthias wie vor oder nach ihm angefangen worden sein. Sie zeigt jedenfalls dieselbe Profilirung und Geschlossenheit wie Emmaus. Die Stadtpfarrkirche in Glatz läßt sich dagegen datiren, womit aber die Erbauer-Frage nur räthselhafter wird. Glatz ist nach 1364 begonnen, also als Matthias längst todt war. Denn Arnest von Pardubic, der Reichskanzler Karls und Erzbischof von Prag, vermacht sein Vermögen, als er 1364 zu Raudnitz stirbt, zum Bau der bis dahin hölzernen Kirche in Stein und läßt sich bis nach Glatz bringen und in dieser Pfarrkirche begraben. Ein Entwurf des Matthias konnte daher nicht vorliegen wie etwa für Emmaus und Theyn. Auffallenderweise läßt sich Arnest nicht in die Thumbkirche zu Glatz, d. h. in das von ihm gestiftete, vollendete und reich dotirte Chorherrenstift, dessen Errichtung die Inschrift über seiner Büste im Triforium als eine seiner Hauptthaten hervorhebt, begraben, sondern in der Pfarrkirche vor jenem Marienstandbilde, das noch heut vorhanden, und vor dem er als Schulknabe eine Erscheinung gehabt hatte. Leider ist die Thumbkirche, die hochberühmt war wegen ihrer Pracht, nicht mehr vorhanden, sie ist im vorigen Jahrhundert unter Friedrich dem Großen niedergerissen worden, sodaß sich über ihren Stil nichts sagen läßt. Man sollte meinen, wenn der Reichskanzler eine Stiftung macht, die so hervorragend ist, daß sie in seiner Inschrift erwähnt wird, so würde sie in den Inschriften des Meisters auch nicht fehlen, der diesen Bau entworfen und ausgeführt hätte. Es dürfte daher noch ein dritter Meister anzunehmen sein, den Arnest vielleicht besonders begünstigte. Dann erklärt sich alles leicht und ungezwungen, die Widersprüche lösen sich, man braucht das Jahr der Grundsteinlegung von Emmaus [30] 1343 nicht in 1344 zu verändern; die Uebereinstimmng aller drei Bauten erklärt sich, obgleich sie während der Zeit des Matthias wie des Peter Parler entstanden sind, ganz ungezwungen. Auch die alterthümlichen Details und die starken Mauern sind dann erklärlich: Matthias sowohl wie Peter waren im Stile fortgeschrittener und in ihren Constructionen kühner als der böhmische Baumeister. Uebrigens ermangelt es nicht an Vorgängerinnen für Emmaus, Theyn und die Glatzer Stadtpfarrkirche. Kurz vorher ist die S. Jacobskirche in Kuttenberg fertig geworden, ehe noch an Matthias zu denken war, und diese zeigt ganz ähnlich sichere Mauerstärken, ja sogar die Profile ähneln den drei beregten Kirchen mindestens ebenso sehr als etwa die des Unterbaues von Prag. Es kann auch unmöglich in Böhmen ganz an einheimischen Baumeistern gefehlt haben.

     Von den gesamten Aufstellungen Gurlitts, welche die böhmische Kunst zur Zeit Karls IV. als durch die Albigenser beeinflußt erweisen sollten, hat somit keine einzige Stich gehalten. Die behaupteten überraschenden Aehnlichkeiten bestehen ebensowenig wie die dem Languedoc zugeschriebenen Eigenthümlichkeiten. Aber auch andere Behauptungen Gurlitts über das Mittelalter rufen Befremden hervor. Er liebt die Zeit nach 1200 wenig. Um das unleugbar Schöne aus dieser Zeit hinauszuschaffen, verwechselt er Jahrhunderte, oder er holt Juden und Mauren herzu, um ihnen das Schöne zuzuschreiben. Ueber die Bildhauerkunst der genannten Zeit urtheilt er Seite 322/23 wie folgt: „Während die deutschen Meister des 12. Jahrhunderts Werke geschaffen hatten, die an Tiefe der Auffassung und formaler Vollendung zu den glänzendsten Schöpfungen des Mittelalters gehörten, war die Bildnerei im Dienste der deutschen Gothik Schritt für Schritt zurückgegangen, die Steinmetzenarbeit handwerklicher geworden. Die Figuren hatten sich der Gestaltung ihres Aufstellungsortes, den schlanken Blendarcaden, den aufstrebenden Pfeilern einfügen müssen, hatten jene gesunde Naturwahrheit verloren, jene gedrungene Kraft, die ihnen in der romanischen Periode eigen gewesen waren. Das Bestreben, die menschliche Gestalt zu durchgeistigen, die religiös-schwärmerische [31] Richtung hatten dahin geführt, daß man die Leiber als nebensächlich, den Ausdruck der Gedanken als das Wesentliche der Kunst betrachtet hatte. Wie die Dichtung sich in übersinnlichen Verfeinerungen, in der spielenden Uebertreibung zugespitzter Gefühle bewegte, so hatte auch die Plastik den Boden der Wirklichkeit verloren, die Formen gestreckt, gebogen und gewunden, ihnen jenes himmelnde Lächeln, jene Gliederverrenkungen, jene Körperlosigkeit gegeben, welche eine höhere Art von Frömmigkeit darstellen sollten, aber nichts besseres waren als die verwandte Kunst des 17. und 18. Jahrhunderts, eine Manier, eine lahme Stilisirung, der der eigentliche Ernst der Künstlerschaft, die gewissenhafte Wahrheitsliebe, die Ursprünglichkeit der Anschauung fehlte.“ Also die Straßburger Figuren kennt Gurlitt nicht, die mit den herrlichen Gestalten der Kirche, der Synagoge, der beiden Frauen des salomonischen Urtheils am Kreuzflügel gegen 1230 beginnen und mit den großartigen Gestalten der drei Hauptportale gegen 1300 schließen. Er hat nicht die Leiber in stolzer Schöne durch den herrlichen Faltenwurf der Gewänder nur noch deutlicher hervorgehoben gesehen. Auch Magdeburg, Bamberg, Naumburg, Trier, Worms usw., alles ist Gurlitt unbekannt. Man muß sie aus eigener Anschauung oder aus guten Photographieen kennen, denn die wenigen, welche in den Kunstbüchern als Holzschnitte abgebildet sind, haben die Zeichner gründlich mißhandelt. Daher kennen sie viele gar nicht. Und solcher Meisterwerke hat es gewiß in großer Fülle gegeben. Denn wenn man erwägt, welche Verheerungen die Bilderstürmer des 16. Jahrhunderts und der französischen Revolution wie die Brandfackeln der Schweden und Franzosen an unseren Kirchen angerichtet haben, mit welcher Wuth ganze Dome ihres Bildschmuckes beraubt worden sind, dann nimmt es Wunder, daß überhaupt noch so viele Bildwerke aus jener Zeit erhalten sind.[3]

[32]      Wie gelungen diese Compositionen sind, werden zwei Erwägungen besonders klar machen. Wenn ein oder zwei alte verloren gegangene Figuren in heutiger Zeit ersetzt worden sind, dann stechen diese neuen Gestalten gewöhnlich auf das unvorteilhafteste gegen ihre alte Genossen ab: die Gesichter ohne Besonderheit und Reiz, die Falten wie Leinwand, die künstlich über ein Modell gelegt und mit Gips hart gemacht ist, damit sich die verkünstelten Falten nicht verschieben, die ganze Haltung lahm und ohne Kraft. Wenn aber heutzutage die Aufgabe wäre, gar ein ganzes Portal z. B. mit den thörichten und weisen Jungfrauen auszustatten, die Schwierigkeiten, die es bereiten würde, sechs oder zwölf große Gewandfiguren nebeneinander in befriedigender Haltung und künstlerischer Vollendung zu erhalten, wird jeder Baumeister beurtheilen können, der mit Beschaffung derartigen bildhauerischen Schmuckes vertraut ist. Einzelne Figuren im Atelier zu schaffen, gelingt ja, besonders etwa wenn sie zur Hauptsache nackt sein können; Gewänder mißrathen schon öfter, aber ganze Gruppen von Figuren zu einem harmonischen Ganzen zu gestalten, das versuche man nur einmal und man wird Achtung vor den mittelalterlichen Meistern jener Zeit bekommen. Auf welche Figuren der romanischen Kunst mag aber Gurlitt wohl sein Urtheil begründen? Er nennt sie nicht. Unmöglich kann er die Wechselburger und Freiberger meinen, die zwar recht hervorragend aber doch befangen sind gegenüber den herrlichen oben angeführten Schöpfungen. Und auch sie kommen in ihrem schöneren Theile aus dem geschmähten 13. Jahrhundert.

[33]      „Die eigenartige Form des Domes in Alby ist nach vielen Richtungen ein Ereigniß der geistigen Entwicklung des Languedoc …“ schreibt Gurlitt S. 319, auf Grund eines Buches von G. Dierks „Die Araber im Mittelalter“. „Dazu kam der Einfluß des hohen Culturlebens der Mauren.“ Für den Architekten sollte es der Ansichten anderer nicht bedürfen, um den Werth oder Unwerth der Bauschöpfungen einzelner Zeiten zu beurtheilen; ihm müßte ohne weitere Eideshelfer klar sein, daß der Einfluß dieser Mauren gar kein hoher oder besonders fördernder gewesen sein kann, denn welche Kunst steht wohl höher, die des damaligen königlichen Frankreichs, die am Rhein und in Sachsen oder die des Languedoc? und zwar zu jeder Zeit, sowohl in romanischer wie gothischer? Für den mittelalterlich Geschulten bedarf diese Frage kaum der Erörterung. Auch eine etwaige Herabdrückung der maurischen Cultur- und Kunststufe durch den christlichen Geist ist nicht anzunehmen, denn was hat das Maurenthum rein und unbeeinflußt im eigenen Lande architektonisch zu Wege gebracht? Eine recht phantastische, aber auch recht unlogische Baukunst; dadurch vielleicht manchem sympathisch, aber der mittelalterlich-christlichen Kunst noch viel weniger gewachsen als die angeblich maurisch beeinflußte Baukunst im Languedoc. An der spanischen romanischen Kunst aber, ebenso wie an der dortigen Früh- und Hoch-Gothik ist ein maurischer Einfluß überhaupt gar nicht festzustellen. Die lichten Innenräume sehen so klar, so bestimmt und logisch aus, daß sie ebensogut in Deutschland stehen könnten. An die Tausendsäulengrundrisse der phantastischen Moscheen erinnern sie in nichts. Ihre Detaillirung ahmt ebenfalls in keinem Striche maurische Kunst nach; so wenig, daß es Wunder nehmen müßte, daß gar keine Beziehungen zu entdecken sind, wenn man nicht wüßte, mit welcher leidenschaftlichen Abneigung sich das christliche Spanien den Mauren, den verhaßten Bedrückern und Ungläubigen verschloß. Die in stolzer Majestät und Pracht in die Lüfte wachsenden Dome und Kirchen zeigen dem Bewanderten reine, unverfälschte Gothik, aber von maurischer Beeinflussung keine Spur. Zur Zeit Karls des Großen versteht man es, wenn die [34] jungen Völkerschaften, die drei Jahrhunderte vorher erst in ihre Wohnsitze eingezogen waren, in Wohnsitze, in denen nicht tausendjährige Wissenschaft und Bildung, wie in Egypten und Afrika, vorhanden war, wenn diese den spanischen Mauren in den Wissenschaften nicht gewachsen waren. Seitdem aber waren die christlichen Völker erblüht und die Mauren entkräftet gesunken. Und woher hatten selbst zur Zeit Karls die Mauren ihre Künste, ihre Wissenschaften? vielleicht von ihren Vorfahren, die acht Tage lang mit der alexandrinischen Bibliothek die Bäder heizten? Und die in ihren besten Werken getreulich die vorhandenen Christenbauten nachbildeten? Hatten sie sie nicht vielmehr von den unterjochten Christen in Egypten, Carthago und Spanien, die hoch in allen Wissenschaften und Künsten glänzten und die selbst den Spitzbogen schon erfunden hatten?

     Gurlitt schreibt weiter, „die Erkenntniß, daß es auch bei den muhamedanischen Ketzern außerhalb der Kirche eine Weisheit, eine Sittlichkeit und Gerechtigkeit auf Erden gebe, mußte den Zweifel an dem alleinigen Lehramt Roms wecken.“ Damit kann man alles beweisen und alles aus der Welt schaffen. Diese Erkenntniß hätte den „Evangelischen“ gerade so gut Zweifel an dem alleinigen Lehramte Jesu Christi wecken können.

     Welchen Einfluß nun aber gar die Juden ausgeübt haben sollen, um den „evangelischen Predigtkirchengrundriß von Alby“ zu Wege zu bringen, dies zu ergründen, versagt auch die kühnste Phantasie. Mit der Behauptung, die Juden hätten allein „ernstlich“ die Naturwissenschaft betrieben, ist nichts gesagt. Sie besaßen ja in Nîmes, Carcassonne und Montpellier Schulen für Aerzte; man lese aber die Quacksalber-Recepte, um dieses „ernstliche“ Studium zu verstehen. Und wie die Medicin dabei auf die Architektur eingewirkt haben soll, ist uns bei aller Werthschätzung allgemeiner Culturzusammenhänge unverständlich. Und meint Herr Gurlitt etwa, daß die Juden ihrer Naturwissenschaft halber im „finsteren Mittelalter“ vertrieben worden seien, so wird sein Glaube an die beständig mit den Judenverfolgungen auftretende Phrase „finsteres Mittelalter“ heutzutage vielleicht etwas wankend.

[35]      Auch zur Erklärung der Größe eines Herrschers wie Karl IV. braucht man nicht verwundert nach irgend einem fremden Einflusse zu suchen; nicht der jüdische und skeptisch-wissenschaftliche Geist hat diesen Mann hervorgebracht: Karl IV. ist die echte und rechte Erscheinung eines christlichen Fürsten, eines hochgebildeten, für alles Gute und Schöne begeisterten Menschen, dem es als das Höchste galt, seinen Völkern das Christenthum zu erhalten, die Kirche zu schützen und zu stärken, den Staat zum Schutze aller Bürger auszubauen, christliche Kunst und Wissenschaft überall hinzutragen und zu pflegen — kurz, an Karl IV. bemerkt man ebensowenig jüdisch-skeptisch-wissenschaftliche Einflüsse wie an den Bauten des Languedoc oder Böhmens maurisch-jüdisch-albigensische Eigenthümlichkeiten. Karl IV. wird jedermann verständlich und bewunderungswerth, wenn man ihn als Christen studirt, ebenso wie die Gebäude der Kirche des Mittelalters jedem sofort klar und verständlich werden, wenn man sie mit der Kenntniß des Wesens und der Gebräuche der mittelalterlichen Kirche betrachtet und untersucht.

     Daß das Mittelalter hochgebildet war, so hoch wie irgend eine andere Zeit, das müßte vor allem dem Architekten klar sein. Ihm ist es am ersten möglich, durch den verzerrenden und verdüsternden Schleier der Jahrhunderte hindurch ohne Leidenschaft zu blicken und die wahre Gestalt der Dinge zu erkennen. Die Baukunst ist keine bloße Schulung des Handgelenkes und des Auges, sie ist kein einseitiges Erzeugniß kühner, ungebildeter Phantasie und auch keine ausgeklügelte Theorie unpraktischer Wissenschaft. Das Bauwerk ist auch nicht das Erzeugniß eines einzelnen Menschen. Die Baukunst fordert bei dem Einzelnen als Grundlage die volle geistige Bildung des ganzen Menschen, und zur Ausführung seiner Werke bedarf der Baumeister der Anregung solcher, die das Verständniß solcher Kunstwerke und das Bedürfniß nach ihnen haben, ebenso wie der Hülfe tausender, die in den verschiedenen und verschlungenen Erfordernissen der Kleinkunst, des Gewerbes, der Industrie usw. ihrerseits wieder Meister sein müssen. Zur höchsten Blüthe der Baukunst gehört vor allem höchste Blüthe des gesamten Volkes in der Wissenschaft und den anderen [36] Künsten, in Vermögen und Lebensgewohnheiten. Jene Riesengeister um die Wende des zwölften Jahrhunderts schufen innerhalb der kurzen Lebensdauer dreier Geschlechter Bauten, vor deren Kühnheit und Weisheit ohne Gleichen man staunend verstummen muß. In Höhen, in denen wir die Helme unserer Thürme zu beginnen pflegen, spannten sie ihre Wölbungen über Räume, die man heutzutage mit aller Wissenschaft nur schüchtern tief unten zu überwölben wagt. In nie gekanntem Wagemuthe ragen ihre Thürme in die Lüfte, durchbrochen und ausgearbeitet wie feinstes Spitzenwerk und doch den Stürmen von Jahrhunderten trotzend — und ihnen standen nicht das Eisen und der Dampf zum Dienste bereit. Ihre Simse und Knäufe schmücken sich zum ersten Male mit heimischen Laubwerk und Gethier, einer Zier, die den hochgerühmten Formen der Hellenen sich kühnlich an die Seite stellen darf. Was haben wir dagegen als Eigenthum unserer Zeit zu bieten? Jeder damals erschaffene Bautheil athmet neues Leben und stellt in neuen Formen dar, was Construction und Klima, was heimische Sitte und Landesbrauch vernunftgemäß fordern.

     Das Mittelalter war groß genug, um selbst Großes zu erzeugen. Und zu seinen Schöpfungen gehört die Predigtkirche, für die allenthalben im Lande in natürlicher Weise das Bedürfniß vorhanden war.




Halle a. S., Buchdruckerei des Waisenhauses.



  1. Zeitschrift für Bauwesen 1892 S. 320: „Daß daher überall, wo der Gottesdienst nicht vorzugsweise in Messe und Heiligencult bestand, sondern die Erklärung des Wortes zur Hauptsache wurde, alsbald Kirchen gebaut wurden, die zur Anhörung des Wortes geeignet waren. … Mit einem Bau wie dem Dom in Alby wußte das katholische Capitel nach völliger Unterdrückung der Albigenser wenig anzufangen. …“
  2. Gurlitt schreibt ohne nähere Begründung 1282, während sie Violett-le-Duc gegen 1350 setzt, dessen Urtheil selbst vielleicht falsch gelesene Urkunden ersetzen dürfte.
  3. Luther war bekanntlich für die Bilder. — „Bildniß haben ist nicht unrecht. Hat doch Gott selbst im alten Testament Aehern Schlang heißen aufrichten und die Cherubin an der gulden Archen.“
    Luther. 2. Tom. Jen. Fol. 102. a.

         „Kann man nu Altar und sonderliche Stein machen und aufrichten, daß Gottes Gebot dennoch bleibe, weil das Anbeten nachbleibt; so werden mir auch meine Bilderstürmer ein Crucifix oder Marienbild lassen müssen.“

    Luth. Tom. 3. Jen. Fol. 39. b.

         „Ist nu nicht Sünde, sondern gut, daß ich Christi Bild im Herzen habe, warum soll es Sünde sein, wann ichs im Auge habe?“

    Luth. Tom. 3. Jen. Fol. 113.

         „Derohalben sind die äußerlichen Bilder, Gleichnis und Zeichen gut, und nützlich ein Ding dadurch vorzumahlen, zu fassen, und zu behalten. Ja sie dienen auch dazu, daß dem Teufel mit seinen feurigen Pfeilen, der uns mit hohen Gedanken und subtilen Fragen vom Worte abführen will gewehret, und wir dadurch solche helle und leichte Bilder, die ein jeder einfältiger Mensch wol fassen kann im rechten Verstand des Worts erhalten werden.“

    Luth. Hauß-Postill. Sommertheil. 2. Blatt
    gedruckt zu Jena. Anno 1572.