Timur Magometowitsch Enejew
Timur Magometowitsch Enejew (russisch Тимур Магометович Энеев; * 23. September 1924 in Grosny; † 8. September 2019[1]) war ein sowjetischer/russischer Physiker und Mathematiker balkarischer Herkunft.[2][3]
Leben
BearbeitenEnejews Vater war der balkarische Kommunist Magomed Alijewitsch Enejew, der für die Sowjetmacht im Nordkaukasus kämpfte und 1928 Selbstmord beging. Enejews Mutter war die Ökonomin Jewgenija Petrowna geborene Feodorowa. Sein Vorname Temir bedeutet Eisen. Als Schüler sah Enejew ein Buch von Konstantin Ziolkowski. Er begann sich für die Raumfahrt zu interessieren und ging gern ins Planetarium. Zu Beginn des Deutsch-Sowjetischen Krieges wurde er Arbeiter in einem Rüstungsbetrieb. An einer defekten Maschine wurde sein rechter Arm so sehr verletzt, dass er amputiert werden musste.
1943 begann Enejew das Studium an der Mechanik-Mathematik-Fakultät der Lomonossow-Universität Moskau (MGU). Er nahm am Kosmodemjanski-Seminar für Mechanik der Körper mit variabler Masse teil, in dem die Mechanik des Raketenfluges studiert wurde. Mit Dmitri Ochozimski entwickelte sich eine lange Freundschaft. Seine erste wissenschaftliche Arbeit veröffentlichte er im 3. Studienjahr in der nichtöffentlichen Zeitschrift des Komitees Nr. 2 für Raketentechnik beim Ministerrat der UdSSR. Mit einer Diplomarbeit über die Programmsteuerung einer Rakete in der Atmosphäre schloss er 1948 das Studium ab. Darauf wurde er Aspirant im Forschungsinstitut für Mechanik der MGU und arbeitete daneben im Moskauer Steklow-Institut für Mathematik der Akademie der Wissenschaften der UdSSR (AN-SSSR).
1951 nach erfolgreichem Abschluss der Aspirantur wurde Enejew im Steklow-Institut in die von Mstislaw Keldysch geleitete Abteilung für angewandte Mathematik aufgenommen, die 1953 ein eigenes Institut der AN-SSSR wurde. Enejew leitete dort seitdem eine Gruppe in der von Dmitri Ochozimski geleiteten Abteilung Nr. 5, die eng mit dem Experimental-Konstruktionsbüro OKB-1 Sergei Koroljows zusammenarbeitete. 1951 untersuchte er Probleme der Orientierungssteuerung mehrstufiger Raketen.[3] Seine Ergebnisse fanden beim Start des Sputniks 1 Anwendung.[4] Auch wurden die Probleme der Berechnung der Sputnik-Umlaufbahn in der oberen Atmosphäre gelöst.[5] Später untersuchte Enejew die Perspektiven des Einsatzes von elektrischen Raumfahrtantrieben für Flüge im interplanetaren Raum.[6] 1957 wurde er Mitglied der KPdSU. 1959 wurde er zum Doktor der physikalisch-mathematischen Wissenschaften promoviert. 1968 wurde er Korrespondierendes Mitglied der AN-SSSR.[2]
In den 1970er Jahren begann Enejew, mit Computermodellierungen die großräumigen Strukturen und Bewegungen von Vielteilchenensembles zu untersuchen. Er zeigte, dass beim Flug eines Körpers durch eine scheibenförmige Teilchenwolke sich spiralförmige Strukturen bilden, wie sie für Galaxien typisch sind.[7] Ausgehend von den Ideen Otto Schmidts untersuchte er die Planetenbildung aus einer Teilchenwolke. Mit seinem Modell auf der Basis einfacher Grundannahmen konnte er nicht nur die Beziehungen zwischen den Massen und Bahnradien der Planeten des Sonnensystems reproduzieren, sondern auch die Drehrichtung der Eigenrotation der Planeten.[8] 1992 wurde er Wirkliches Mitglied der nun Russischen Akademie der Wissenschaften (RAN).
Im Hinblick auf die Asteroidengefahr untersuchte Enejew die Bewegung kleiner Körper im Sonnensystem aus großer Entfernung zur Erde hin.[9][10] Auf der Basis seiner Modellierungen entwickelte er auch eine Methode zur Modellierung der Prozesse der Makromolekülbildung.[11] Er war Hauptherausgeber der Zeitschrift Cosmic Research[12] und Mitglied vieler Wissenschaftsräte und Herausgeberkollegien.
In den 1970er Jahren beteiligte sich Enejew auch an Umweltproblemdiskussionen. Er lieferte einen wichtigen Beitrag beim Kampf gegen das Projekt der Umleitung der nach Norden fließenden Flüsse nach Süden. Er beteiligte sich an der Kampagne gegen die Verschmutzung des Baikalsees durch Industrieunternehmen. Seit Beginn der 1990er Jahre engagierte er sich in der Bewegung für geistige Erneuerung auf der Basis der russischen Orthodoxie. Nach einem Aufruf von 10 Akademiemitgliedern 2007 gegen den zunehmenden Einfluss der Kirche verfasste Enejew zusammen mit Gennadi Malzew, Felix Kusnezow, Georgi Sawarsin und Georgi Golizyn einen offenen Brief, in dem unter anderem der Religionsunterricht in Schulen und die Anerkennung akademischer Grade in der Theologie gefordert wurde.[13] Enejew beteiligte sich am Seminar Wissenschaft und Glaube der Moskauer Orthodoxen Heiliger-Tichon-Universität für Geisteswissenschaften.
Der 1978 von Ljudmila Tschernych entdeckte Kleinplanet (5711) Eneev wurde nach Enejew benannt.[14]
Ehrungen, Preise
Bearbeiten- Orden des Roten Banners der Arbeit (1956, 1974)[2]
- Leninpreis (1957)
- Leninorden (1961)
- Staatspreis der UdSSR
- Orden der Oktoberrevolution (1984)
- F. A. Zander-Preis der RAN (1992)
- Orden der Ehre (2005)
- Demidow-Preis (2006)[3]
- Keldysch-Goldmedaille (2010)[15]
Weblinks
Bearbeiten- T. M. Eneev in der Datenbank zbMATH
- Тимур Магометович Энеев Eintrag in der Chronik der Lomonossow-Universität (russisch)
Einzelnachweise
Bearbeiten- ↑ Profil auf der Website der Russischen Akademie der Wissenschaften
- ↑ a b c Artikel Enejew Timur Magometowitsch in der Großen Sowjetischen Enzyklopädie (BSE), 3. Auflage 1969–1978 (russisch)
- ↑ a b c Лауреат Демидовской премии Энеев Тимур Магометович (abgerufen am 28. August 2017).
- ↑ D. J. Ochozimski, T. M. Enejew: Некоторые вариационные задачи, связанные с запуском искусственного спутника Земли. In: Успехи физических наук. Band 63, 1a, 1957, S. 33–50.
- ↑ D. J. Ochozimski, T. M. Enejew, Г. П. Таратынова: Определение времени существования искусственного спутника Земли и исследование вековых возмущений его орбиты. In: Успехи физических наук. Band 63, 1a, 1957, S. 5–32.
- ↑ T. M. Enejew, Р. З. Ахметшин, Г. Б. Ефимов, М. С. Константинов, Г. Г. Федотов: Баллистический анализ межпланетных полетов космических аппаратов с электроракетными двигателями. In: Математическое моделирование. Band 12, Nr. 5, 2000, S. 33–38.
- ↑ Н. Н. Козлов, R. æ. Sjunjajew, T. M. Enejew: Гравитационное взаимодействие галактик. In: Вестник Российской академии наук. Nr. 7, 1974, S. 50–61.
- ↑ T. M. Enejew, Н. Н. Козлов: Модель аккумуляционного процесса формирования планетных систем. II. Вращение планет и связь модели с теорией гравитационной неустойчивости. In: Астрономический вестник. Band 15, Nr. 3, 1981, S. 131–141.
- ↑ T. M. Enejew: К вопросу об астероидной опасности. In: Компьютерные инструменты. Band 2, 2003, S. 13–19.
- ↑ T. M. Enejew, Г. Б. Ефимов: Миграция малых тел в Солнечной системе. In: Земля и Вселенная. Nr. 1, 2005, S. 80–89.
- ↑ Козлов Н.Н., Козырева Е.Е., Кугушев Е.И., Сабитов Д.И., Enejew Т.М.: Численное исследование процессов структуризации макромолекул РНК. In: Препринт ИПМ им. М. В. Келдыша РАН. Nr. 69, 1995, S. 22 (nsc.ru [abgerufen am 28. August 2017]). Численное исследование процессов структуризации макромолекул РНК ( vom 31. August 2007 im Internet Archive)
- ↑ Cosmic Research (abgerufen am 28. August 2017).
- ↑ Письмо других академиков. Заявление представителей РАН в связи с "письмом десяти" (abgerufen am 28. August 2017).
- ↑ Lutz Schmadel: Dictionary of Minor Planet Names, Band 1. Springer Science & Business Media, 2003, ISBN 978-3-540-00238-3, S. 484.
- ↑ RAN: Золотая медаль имени М.В. Келдыша (abgerufen am 28. August 2017).
Personendaten | |
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NAME | Enejew, Timur Magometowitsch |
ALTERNATIVNAMEN | Энеев, Тимур Магометович (russisch) |
KURZBESCHREIBUNG | balkarisch-russisch-sowjetischer Physiker und Mathematiker |
GEBURTSDATUM | 23. September 1924 |
GEBURTSORT | Grosny |
STERBEDATUM | 8. September 2019 |