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Studia Leibnitiana. Supplementa. Vol. II: Akten des Internationalen Leibniz-Kongresses Hannover, 14.-19. November 1966. Band II: Mathematik-Naturwissenschaften. (French) Zbl 0182.30501

Wiesbaden: Franz Steiner Verlag GmbH. vi, 287 S. (1969).
In diesem Sammelband, dem am Ende ein Abkürzungsverzeichnis, ein Namenregister und ein Verzeichnis der erwähnten Schriften und Korrespondenzen von Leibniz beigegeben ist, sind folgende Einzelbeiträge enthalten:


(1) A. P. Jushkevich: G. W. Leibniz und die Grundlagen der Infinitesimalrechnung [1–19, auch französisch als A. P. Youschkevitch, G. W. Leibniz et les fondements du calcul infinitésimal, in: Organon 5, 157–168 (1968; http://bazhum.muzhp.pl/media//files/Organon/Organon-r1968-t5/Organon-r1968-t5-s153-168/Organon-r1968-t5-s153-168.pdf)].
Gleich vielen anderen Denkern seiner Zeit war Leibniz von der Möglichkeit einer umfassenden Wissenschaftsmethode überzeugt, mittels deren das bis dahin größtenteils ungegliedert angehäufte Wissensgut einheitlich geordnet und systematisch erfaßt werden könne. Ohne die erst seit kurzem (K. Gödel) erkannte Unmöglichkeit solchen Vorgehens zu ahnen, hoffte er durch Erweitern der Aristoteleschen zur Symbollogik mit zugehörigem Calculus auf Erfolg, ist jedoch nicht über (wichtige) Vorarbeiten hinausgekommen. Aus diesem Streben ist (neben vielen anderen wertvollen Ergebnissen) die symbolische Behandlung infinitesimaler Grenzübergänge hervorgegangen, anfangs beweislos angedeutet (1684), später in Verteidigung gegen kritische Einwände an vielen Beispielen erläutert, jedoch trotz zahlreicher, freilich nicht immer zusammenstimmender Ansätze noch nicht hinreichend begründet. Trotz dieses Mangels sind diese Versuche bedeutungsvoll für die endgültige Fundierung und Weiterentwicklung der Infinitesimalmathematik geworden, wichtiger als die schon 10 Jahre früher entwickelten Verfahren Newtons, dessen Symbolik weniger glücklich gestaltet ist.


(2) P. Costabel: Les mémoires de Leibniz sur l’arithmétique binaire à l’Académie Royale des Sciences de Paris (20–26).
Leibniz, der schon während der Pariser Zeit (1672/76) einfache Rechnungen im binären System durchgeführt hatte, entwickelte dieses Verfahren in einem bisher nur unvollständig im Druck zugänglichen Manuskript [Herrn von Leibniz’ Rechnung mit Null und Eins (Berlin-München 1966)]. Seit 1697 wies er im Zusammenhang mit metaphysischen Vorstellungen über die Schöpfung aus dem Nichts [G. W. Leibniz: Zwei Briefe über das binäre Zahlensystem und die chinesische Philosophie, ed. R. Loosen und Fr. Vonnesen (Stuttgart 1968)] auf die Bedeutung der Dyadik hin. 1701 reichte er eine diesbezügliche Abhandlung bei der Acadremie ein, zog sie jedoch wieder zurück und gab eine weiterreichende Fassung in Druck [Mém. Acad. Roy. Sci. vom 5. V. 1703, Pariser Ausgabe 85–89 (1705)]. Nach Andeutung der Grundrechnungsarten in binärer Schreibweise verweist Leibniz auf Perioden in den Spalten, falls ganzrationale Polynome aufeinanderfolgender Zahlen zeilenweise untereinander geschrieben sind, was bei der Tabulierung nützlich sei. Er hofft (vergeblich) auf eine Möglichkeit, transzendente Zahlen durch Darstellung in binären Systembrüchen zu kennzeichnen. Die Einzelheiten hinsichtlich der Vorlage, Rückgabe und Umarbeitung der Abhandlung sind mit großer Sorgfalt dargestellt.


(3) A. Oberschelp: Die Entwicklung der Leibnizschen Idee der unendlich-kleinen Größen in der modernen Mathematik (27–33).
Verf. schildert die von A. Robinson, Non-standard analysis. Amsterdam: North-Holland (1966; Zbl 0151.00803) entwickelten Gedankengänge, die auf eine Präzisierung der Leibnizschen Vorstellungen über infinitesimale Größen hinauslaufen.


(4) L. v. Mackensen: Zur Vorgeschichte und Entstehung der ersten digitalen 4-Spezies-Rechenmaschine von G. W. Leibniz (34–68).
Nach kurzem Hinweis auf die ältesten Zählgeräte (Umdrehungs-und Schrittzähler) folgt ein summarischer Überblick über die Rechengeräte von W. Schickardt (1623) und Bl. Pascal (1642). Schon 1670 beschreibt Leibniz ein arithmetisches Gerät. Es enthält das Prinzip der Addier- und Subtrahiermaschine. Kurz darauf folgt die „Lebendige Rechenbank“, bei der zahlreiche Zylinder zusammenwirken. Das Modell von 1672 (1673 der Royal Society vorgeführt) hat direkten Antrieb und Umdrehungszählwerk, ist jedoch noch nicht gangfähig. Wichtigste Erfindung (1674) ist die Staffelwalze. Die sekundäre Zehnerübertragung ist noch unvollkommen und verhindert die praktische Anwendbarkeit für mehr als zwei Stellen, obwohl nunmehr alle Konstruktionselemente einer gangfähigen Maschine vorhanden sind. Die einschlägigen technischen Einzelheiten sind an zusätzlichen eingehenden Detailskizzen überzeugend entwickelt.


(5) Chr. J. Scriba: Neue Dokumente zur Entstehungsgeschichte des Prioritätsstreites zwischen Leibniz und Newton um die Erfindung der Infinitesimalrechnung (69–78).
J. Wallis hatte in der englischen Algebra (1685) über Newtons Reihenentwicklungen (epistola prior) berichtet, ferner über die Entdeckung der Binomialentwicklung durch Interpolation und den Beginn der Entwicklung vermittels des analytischen Parallelogramms (epistola posterior). Diese Darlegungen sind, in der lateinischen Ausgaben der Algebra (Opera II, 1693) erweitert. Verärgert über Stellen in der anonym erschienenen, jedoch (wie Wallis richtig vermutete) von Leibniz stammenden Rezension der Opera I von 1695 (!) (Acta eruditorum 1696), wohl auch von N. Fatio über den weitergehenden Inhalt früher Aufzeichnungen Newtons informiert und zudem in nationalistischer Haltung gegen Leibniz eingenommen, vermutete Wallis, Leibniz sei bei seinen mathematischen Entdeckungen von Newton beeinflußt. Deshalb versuchte er sich Originale oder zuverlässige Abschriften der einschlägigen Briefe von Leibniz und Newton zu verschaffen, um sie in Band III der Opera (1699) aufzunehmen. Bei der Druck-Vorbereitung wurde der über 80 Jahre alte von D. Gregory unterstützt. Stücke aus dessen Aufzeichnungen (St. Andrews) lassen erkennen, daß dieser, bestärkt durch ungeschickte und mißgünstig auslegbare Äußerungen in Leibniz’ Briefen, schon 1696 der Überzeugung war, Leibniz sei bei Abfassung der Antwort auf Newtons epistola prior noch nicht im Besitz der Differentialrechnung gewesen, habe diese vielmehr erst nach Erhalt der epistola posterior nacherfunden. Wallis’ Schreiben vom Anfang 1696 läßt erkennen, daß man damals sorgfältig nach allen einschlägigen Stücken gesucht (jedoch mehrere auch heute noch nicht zugängliche nicht mehr aufgefunden) hat, weil man bestrebt war, den mutmaßlichen Plagiatsvorwurf zu erhärten. Das Ergebnis war der (nicht ganz einwandfreie) Abdruck von 11 Schriftstücken, obendrein z.T. unrichtig datiert, was sich weiterhin gegen Leibniz auswirken sollte.


(6) G. H. R. Parkinson: Science and Metaphysics in the Leibniz-Newton Controversy (79–112).
Im Schreiben vom November 1715 an die englische Kronprinzessin Caroline hatte Leibniz u.a. daran Anstoß genommen, daß Gott nach Ansicht Newtons genötigt sei, in seine Schöpfung fortwährend korrigierend einzugreifen. Dies wurde Ausgangspunkt einer umfangreichen und weitausgreifenden naturphilosophischen Diskussion mit dem von Newton beratenen englischen Hofprediger S. Clarke (5 Briefe Clarkes, 4 Gegenbriefe von Leibniz), in deren Verlauf Leibniz die von Newton in den Principia (1687) und in den Optics (1704) aufgestellten naturwissenschaftlichen Grundprinzipien als unvollständig, zum Teil widersprüchlich und unzureichend bezeichnete. Obwohl er Newton an entscheidenden Stellen mißverstanden hat (Newton verwende Fernkräfte, erkläre die Gravitation als Folge verborgener Qualitäten), sind seine Einwände doch nicht unbegründet und haben fördernd auf spätere Autoren eingewirkt.


(7) A. T. Grigorian: Über die grundlegenden Ideen der Mechanik von Leibniz [113–118; auch russisch als Achot T. Grigoryan, Философcкие и естественно-научные взгляды Лейбница in: Organen 4, 147–156 (1967; http://bazhum.muzhp.pl/media//files/Organon/Organon-r1967-t4/Organon-r1967-t4-s147-156/Organon-r1967-t4-s147-156.pdf)].
Leibniz sieht Kontinuität und Erhaltung der „Kraft“ (gemeint ist Energie) als Grundlagen der Mechanik an, will jedoch Kraft stets mit Bewegung verbunden wissen. Er widerlegt die Descartessche Behauptung von der Unveränderlichkeit der Bewegungsgröße \(mv\) und betont, daß Ursache und Wirkung quantitativ gleich sind. Er ahnt also das Prinzip von der Erhaltung der Energie, weiß jedoch noch nichts von den vielgestaltigen Umwandlungsmöglichkeiten. Er fordert die Erklärung aller durch Beobachtung feststellbaren Erscheinungen aus rein natürlichen Ursachen.


(8) B. M. Kedrov: Die „Monadologie“ von Leibniz und die Atomistik [119–132; auch russisch als: Bonifati M. Kedrov, Монадология Лейбница и атомистика, in: Organon 5, 127–138 (1968; http://bazhum.muzhp.pl/media//files/Organon/Organon-r1968-t5/Organon-r1968-t5-s127-138/Organon-r1968-t5-s127-138.pdf)].
Im Sinn der mechanistischen Naturerklärung des 17. Jh. macht die Natur keine Sprünge. Letzte Einheiten der Materie sind die als absolut einfach und unteilbar angesehenen Atome, wesensidentisch und träge. Leibniz schreibt demgegenüber seinen Atomen, den Monaden, Beseeltheit, individuelle Eigenart und innere Bewegungsenergie zu. Wird auf Stetigkeit innerhalb des Naturgeschehens und Beseeltheit verzichtet, dann kann die Leibnizsche Auffassung, die mit den am Miskroskop gemachten Entdeckungen zusammenhängt, als wesentliche Vorwegnahme heutiger atomphysikalischer Vorstellungen angesehen werden.


(9) H. Kangro: Der Begriff der physikalischen Größe, insbesondere der action motrice, bei Leibniz (133–149).
Unter Anziehung ungewöhnlich vieler Belegstellen, auch solcher aus noch ungedrucktem Material, will Verf. Einblick in die nur von Ferne mit der heutigen Auffassung in Übereinstimmung zu bringenden Vorstellungen geben, die sich Leibniz vom Wesen der Kraft und insbesondere vom Übergang aus der Ruhe in die Bewegung gemacht hat. Besondere Schwierigkeit bieten die von Leibniz verwendeten Fachworte, die schon früher (Aristoteles, Scholastik) in etwas anderer Bedeutung auftreten und nun im Ringen um möglichst adäquate Ausdrucksweise ihren ursprünglich metaphysischen Gehalt verändern.


(10) H. Freudenthal: Die Relativität von Raum und Zeit bei Leibniz (150–165).
In der Auseinandersetzung mit S. Clarke wendet sich Leibniz gegen die Newtonsche Annahme der absoluten Drehbewegung (Principia, 1687), auf die seine Himmelsmechanik gestützt ist. Die Folge ist, daß Newton auch die aus mystischen Quellen des 16. und 17. J.h. stammende Existenz des absoluten Raumes und der absoluten Zeit (als Attribute des Göttlichen) übernimmt. Demgegenüber sieht Leibniz Raum und Zeit als Relationssysteme an und bedient sich bei seiner Argumentation der Prinzipien vom zureichenden Grund und der Identität des nicht Unterscheidbaren. Damit ahnt er moderne Einsichten voraus.


(11) Ch. Bartshorne: Leibniz und das Geheimnis der Materie (166–175).
Entstehung, Inhalt und Bedeutung der Leibnizschen Monadenlehre wird in moderner philosophischer Sicht kritisch beleuchtet, vor allem ihr hoher Wert hervorgehoben.


(12) B. Sticker: Naturam cognosci per analogiam. Das Prinzip der Analogie in der Naturforschung bei Leibniz (176–196).
Nicht unbeeinflußt von Jungius’ chemischen Untersuchungen, überwindet Leibniz in kühnem, jedoch wohlüberlegtem Ansatz damals fast allgemein übernommene Ansichten antiker Naturphilosophen und ihrer Nachahmer in der Renaissance: gestützt auf die bei allen Naturvorgängen auftretenden Bewegungserscheinurgen, vergleicht er das Wirken der Naturkräfte bei Formung der Erdoberfläche (dynamische Geologie) mit den vor allem durch Wasser und Feuer erzeugten künstlichen Prozessen im (alchemistischen) Laboratorium.


(12) K. v. Bülow: Protogaea und Prodromus (197–208).
N. Stensen geht im Prodromus (1669) noch vom biblischen Schöpfungsbericht aus, drängt also die Entwicklung auf wenige Jahrtausende zusammen. Er beschränkt sich in induktivem Vorgehen auf selbst Gesehenes und baut eine Geognosie mit historisch erschlossener Interpretation auf. Auch Leibniz nimmt den Schöpfungsbericht an. Er geht in der Protogaea (1691, veröffentlicht 1749) deduktiv vor, hat jedoch seinem aus wohlerwogenen Gründen zurückgehaltenen Manuskript noch nicht die letzte Form gegeben. Es handelt sich um spekulative Geogonie, die neben ausgezeichneten Deutungen auch Irrtümer enthält. Hinsichtlich vieler Einzelheiten stützt sich Leibniz auf den Prodromus und dessen geognostische Methodik. Eigenständig ist jedoch der Vergleich des Wirkens der Naturkräfte mit den von Menschen angewendeten chemischen Prozessen. Der Prodromus hat nur geringe direkte Wirkung gehabt: seine Ergebnisse sind weitgehend erst über die Protogaea bekannt geworden.


(14) J. Rogers: Leibniz et les Sciences de la Vie (209–219).
Leibniz ist auf biologischem Gebiet nicht selbstforschend tätig, kennt jedoch alle zu seiner Zeit auf diesem Gebiet gemachten Entdeckungen von Bedeutung, insbesondere die der Spermatozoen durch A. van Leeuwenhoek (1677). Gleich den meisten Fachkennern seiner Zeit lehnt er die Descartessche Körpermaschine ab, ist jedoch von der Notwendigkeit mechanischer Erklärungsversuche überzeugt. Seine Grundvorstellungen werden von den Biologen des 18. Jh. größtenteils mißverstanden.


(15) A.-T. Tymieniecka (220–230).
Philosophische Diskussion der im „Discours de métaphysique“ enthaltenen Gedanken über Seele und Entstehung des Lebens im Zusammenhang mit einschlägigen zeitgenössischen Auffassungen und unter Berücksichtigung der damals auf biologischem Gebiet gemachten Entdeckungen.


(16) K. E. Rothschuh: Leibniz, die prästabilierte Harmonie und die Ärzte seiner Zeit (231–254).
Vorzüglich belegter Bericht über die teils auf Unkenntnis des Originals, teils auf mangelndem philosophischem Verständnis, teils auf zu geringer praktischer Anwendbarkeit beruhenden Ablehnung der Lehre von der prästabilierten Harmonie bei den Ärzten des 18. Jh.


(17) J. Steudel: Leibniz fordert eine neue Medizin (255–274).
Exzerpte, Aufzeichnungen und Briefe bezeugen Leibniz’ lebenslanges Interesse am Fortschritt der medizinischen Forschung. Leibniz empfiehlt den Ärzten u.a. vertiefte Kenntnis der Anatomie (dem Betätigungsfeld der über die Achsel angesehenen Chirurgen), Vertrautheit mit den neuesten Erkenntnissen auf physikalischem und chemischem Gebiet und Verwendung des Mikroskops. Er hält die Sammlung und Auswertung klinischer Erfahrungen für wichtig und hat den vortrefflichen Arzt G. Chr. Schelhammer (1649–1716) bei Abfassung der 1715 abgeschlossenen, jedoch erst posthum gedruckten „Institutiones medicae“ geschickt beraten.

MSC:

01-06 Proceedings, conferences, collections, etc. pertaining to history and biography
00B25 Proceedings of conferences of miscellaneous specific interest

Citations:

Zbl 0151.00803