Markus's Reviews > Bewusstsein: Warum es weit verbreitet ist, aber nicht digitalisiert werden kann

Bewusstsein by Christof Koch
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Bewusstsein und Informatik - endlich einmal ein Sachbuch, das mich vollends begeistert hat, nicht zuletzt angesichts des Schwurbels, den so manch prominenter Philosoph (aber auch IT-Gläubige) zu dem Thema verbreiten!
Es geht um die von Giulio Tononi und Kollegen entwickelte Integrated Information Theory, kurz IIT, eine der interessantesten Theorien zur Erklärung des Bewusstseins. Vielleicht sind die Wissenschaftler hier einer großen Sache auf der Spur. Auch die Relativitätstheorie war vor 100 Jahren "nur" eine Theorie, die sich erst bewähren musste und die in der Folge unser Verständnis von Raum und Zeit radikal erneuert hat.

Der Autor des Buchs, Christof Koch, ist einer der führenden Bewusstseinsforscher. Er studierte Physik und Philosophie in Tübingen und forschte zusammen mit Francis Crick¹ (ja genau der) am neuronalen Korrelat des Bewusstseins. Heute arbeitet Koch am Allen Institute for Brain Science in Seattle.

Anders als die konkurrierenden Theorien² des Bewusstseins geht die IIT vom Phänomen des Erlebens aus und schreitet von dort zu dessen Substrat, dem Gehirn fort. Um Bewusstsein zu ermöglichen, setzt sie unter anderem eine intrinsische Kausalkraft voraus. Bewusstsein ist demnach eine fundamentale Eigenschaft von allem, das sich selbst ursächlich beeinflussen kann.


[Ernst Mach - Innenperspektive]

Diese Kausalkraft lässt sich für jedes System berechnen oder messen, egal ob es sich um einen Neuronenverband im Gehirn oder eine Anordnung von Logikgattern aus der Informatik handelt. Ich muss gestehen, dass ich Kapitel 8, wo es am Beispiel eines einfachen Schaltkreises ins Eingemachte geht, mehrfach lesen musste, um den Sachverhalt zu erfassen. Meine Faszination wuchs mit dem Verständnis, aber ich will hier niemanden langweilen. Für Unerschrockene verweise ich hier nur auf integratedinformationtheory.org und auf scholarpedia.org, eine gut aufbereitete Übersicht der IIT.
Dankenswerterweise gibt es auch eine freie Software als Pythonmodul zum Download, damit auch unsereins damit herumspielen kann :)) Es soll jedoch nicht verschwiegen werden, dass die Berechnung der Integrierten Information des Fadenwurms, C. elegans, mit seinen 302 Neuronen heutige Computer noch überfordert.

Jede Theorie beinhaltet eine Reihe an Voraussagen und Konsequenzen, die sich in der Wirklichkeit bewahrheiten müssen und so die Theorie bestätigen oder eben nicht. Es ist auf Basis der IIT bereits gelungen, den Protypen eines Messgeräts für Bewusstsein zu bauen. In der klinischen Praxis wäre so ein Gerät ein Segen, man denke an das Dilemma von Komapatienten, von denen man nicht weiss, ob sie bewusst sind, wenn sie körperlich nicht in der Lage sind, die geringste Reaktion zu zeigen. Erste Versuche verliefen vielversprechend. Bei allen Patienten, von denen man weiss, dass sie bewusst sind, (zB Locked-In-Syndrom) zeigte das Gerät Bewusstsein an, bei den meisten Patienten, von denen man annimmt, dass sie nicht bewusst sind, zeigte das Gerät auch nichts an, aber eben nicht bei allen. Es ist beunruhigend, dass laut Messung einige dieser Komapatienten trotzdem bewusst zu sein scheinen.

Die IIT trifft auch recht ungewöhnliche und kontraintuitive Voraussagen. Eine davon betrifft den geteilten Geist von Splitbrain-Patienten³. Die Theorie unterstützt die Annahme, dass jede der beiden Gehirnhälften tatsächlich über ein eigenes Bewusstsein verfügt. Eine andere, für mich schwer zu akzeptierende Konsequenz wäre, dass auch ein bestimmter Schaltkreis aus Logikgattern und lichtempfindlichen Dioden ein Minimum an Bewusstsein haben müsste.

Mehr als spannend ist eine Diskussion im Internet zwischen Tononi und dem Quantenphysiker Scott Aaronson, dessen Intuition sich dagegen sträubt, dass ein Netzwerk, dessen Knoten alle auf OFF stehen, das also nichts tut, bewusst sein soll. Offenbar sind wir so vom Tun vereinnahmt, dass wir das reine Sein nicht mehr wahrhaben wollen. Tononis ausführliche Antwort beginnt mit: Scott solle doch eine weisse Wand betrachten ... (jeder Zenmeister weiss, was leeres Bewusstsein, reines Gewahrsein bedeutet).

Eine weitere Konsequenz der IIT wäre es, dass Bewusstsein in kontinuierlichen Graden auftritt. Lebewesen können danach mehr oder weniger bewusst sein, von knapp über Null ansteigend auf einer nach oben offenen Skala. Mit der Konsequenz, dass auch Einzeller oder Bakterien irgendeine Form von Erleben hätten, wenn auch ein sehr geringes. Dass Menschen, die langfristig und regelmäßig meditieren, einen besonders hohen Grad an Bewusstsein aufweisen, was in zahlreichen neurologischen Studien schon länger angenommen wird, würde sich bestätigen. Die nächsten Jahre der Forschung dürften jedenfalls sehr spannend werden.

Wenn man den Grad von Bewusstsein berechnen kann, dann folgt die Frage nach seiner Digitalisierung auf den Fuß und die Frage ist angesichts der rasanten Entwicklung der Technologie auch mehr als berechtigt. Wird unser Mobiltelefon in Zukunft bewusst sein oder werden unsere Enkel ihren Geist in die Cloud hochladen? Damit befassen sich die weiteren Kapitel des Buchs. Die entsprechenden Schlussfolgerungen der IIT sind für mich beruhigend und bestätigen mein Bauchgefühl.

Haben Sie sich jemals gefragt, warum Astrophysiker, dıe Schwarze Löcher simulieren, nicht in ihre Supercomputer hineingesaugt werden? Wenn ihre Modelle die Wirklichkeit so genau nachbilden, warum schließt sich die Raumzeit dann nicht um den Computer, der die Simulation ausführt, und erzeugt ein kleines Schwarzes Loch, das den Computer und alles um ihn herum verschluckt? Weil Gravitation keine Berechnung ist! Gravitation hat echte extrinsische kausale Kraft. Diese Kräfte können funktionell simuliert werden [...], aber das verleiht diesen Simulationen keine kausale Kraft.

Wunderbar erklärt! Simulation ist nicht Realität. Die integrierte Information von Computerhardware, ihre intrinsische Kausalkraft liegt nahe bei Null. Wir können mit Computern alles mögliche simulieren, irgendwann auch Bewusstsein - doch simuliertes Bewusstsein ist Fake-Bewusstsein. Um eine wirklich bewusste Maschine zu bauen, würden wir neuromorphe Hardware brauchen, was derzeit nicht absehbar ist⁴.

In den letzten Jahrzehnten hat sich mit Unterstützung der HiTech-Industrie und der philosophischen Fakultäten vor allem des angelsächsischen Raums eine Erzählung durchgesetzt, die den menschlichen Geist als Software beschreibt, die auf einem feuchten Computer, unserem Gehirn läuft: Der Mensch als Turing Maschine. Sensorischer Input wird gespeichert, in mehreren Schichten verarbeitet, daraus folgt motorischer Output in Form von Bewegung, Handlung, Sprache. Der amerikanische Philosoph Daniel Dennett meint überhaupt, Bewusstsein gäbe es gar nicht, es sei nur eine von der Evolution entwickelte Einbildung, um dem Menschen ein praktisches Userinterface zu geben.

Kochs Analyse und kritischer Kommentar zu dieser Entwicklung im letzten Teil des Buchs sind erfrischend eindeutig. Er stellt sich mit klaren Argumenten gegen diese Tendenzen und entlarvt sie als Mythos einer Kultur, die glaubt, in ihrer Rationalität über jeden Mythos erhaben zu sein! Zum Schluss betont Koch seine Überzeugung, dass jedes zelluläre Leben in irgendeiner Form empfindungsfähig und dass viel mehr Lebewesen leidensfähig sind, als man heute glaubt. In dieser Erkenntnis liegt implizit eine Verpflichtung zu ethischer Verantwortung gegenüber allen, aber ganz besonders den kleinsten und schwächsten Mitbewohnern dieses Planeten. Christof Koch bekennt sich deshalb als Vegetarier und als überzeugter Verfechter von Tierrechten. In seinem Schlusssatz nähert er sich der buddhistischen Sicht des Lebens an, womit er nicht nur meine Begeisterung, sondern auch meine Sympathie geweckt hat:

Die buddhistische Einstellung zur Empfindungsfähigkeit spiegelt diese Sichtweise wider. Wir sollten alle Tiere als bewusste Wesen behandeln, als ob sie fühlten, wie es ist zu sein. Das muss die Leitlinie sein, wie wir uns unseren Mitreisenden durch diesen Kosmos gegenüber verhalten, Wesen, die sich nicht gegen unsere Zäune, Käfige, Klingen, Kugeln und unser ständiges Streben nach Lebensraum zur Wehr setzen können. Eines Tages könnte die Menschheit danach beurteilt werden, wie sie ihre Verwandten im Lebensbaum behandelt hat. Wir sollten eine universelle ethische Haltung gegenüber allen Kreaturen einnehmen, ob sie nun sprechen, schreien, bellen, jaulen, heulen, zirpen, quieken, summen oder stumm sind. Denn alle erleben Leben, eingerahmt von zwei Ewigkeiten.

--

¹ Francis Crick, James Watson und Rosalind Franklin entdeckten 1953 die Struktur der DNS.

² Die beiden neben der IIT relevanten Modelle sind das
- "global workspace model" von Bernhard Baar inkl. der Weiterentwicklung von Stanislas Dehaene und
- "orchestrated objective reduction" (Orch OR) von Roger Penrose.

³ Es ist schon lange bekannt und ziemlich eigenartig, dass bei Menschen, denen aus therapeutischen Gründen das Corpus Callosum, die Verbindung der beiden Gehirnhälften chirurgisch durchtrennt wurde, jede Gehirnhälfte ihren eigenen Geist zu haben scheint. Weil das Sprachzentrum vorwiegend in einer Hälfte angesiedelt ist, ist das schwer zu überprüfen.

⁴ Cerebrale Organoide, aus Stammzellen gezüchtet, besitzen laut IIT geringes Bewusstsein, aber keinerlei Intelligenz. Aber wer weiss, was noch alles möglich sein wird.
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Reading Progress

September 1, 2021 – Shelved
September 1, 2021 – Shelved as: to-read
September 6, 2021 – Started Reading
September 17, 2021 – Shelved as: geisteswissenschaft
September 17, 2021 – Shelved as: brain-conciousness
September 17, 2021 – Shelved as: non-fiction
September 17, 2021 – Shelved as: philosophy
September 17, 2021 – Shelved as: wissenschaft
September 17, 2021 – Finished Reading
September 19, 2021 – Shelved as: favorites-non-fiction

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