Verschiedene: Die Gartenlaube (1887) | |
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Sie faßte die kleine Hand und trat mit dem Kinde auf den Flur; Mademoiselle öffnete ihre Stubenthür und schaute hinaus.
„Kommen Sie zu Tische, Lucie? Mon dieu, bleibt la petite hier? Wie alt ist sie?“
„Vier Jahre,“ antwortete das Mädchen, das Kind empor nehmend, und ging mit sonderbar schwankenden Schritten der Treppe zu.
„Himmel! Was ist Ihnen denn?“ schrie Mademoiselle, als sich Lucie an dem Knauf des Treppengeländers hielt. „Sie werden das Kind fallen lassen!“
„O nein; ein wenig Schwindel nur. Ich will mich legen, ich habe es öfter –.“ Sie stand da wie erschöpft; es war ihr, als hebe sich der Fußboden im Flur schräg in die Höhe, als flöge die Lampe dort oben an der Decke in einem feurigen Kreise. Mit Aufbietung ihrer ganzen Kraft erstieg sie die Treppe und betrat ihr Zimmer. Sie zündete Licht an und begann die Kleine auszuziehen, Alles ganz automatenhaft.
„Tante böse?“ fragte die zarte Stimme. Sie hörte es nicht. Sie legte das Kind in ihr eigenes Bett, und dann flüchtete sie in den dunkelsten Winkel des Zimmers und fuhr wild mit den Händen an ihre Schläfen. „Muß ich denn? Muß ich denn? Giebt es denn keinen Ausweg?“
Aber was wollte sie eigentlich? Noch einmal that sich ihr eine Zukunft auf! Was hatte sie denn noch zu hoffen, daß sich ihr innerstes Herz empörte bei dem Gedanken, an Mathildens Stelle zu treten? – O, es war so furchtbar! So furchtbar, eines ungeliebten Mannes Weib zu werden! Nie! Nie! Sie sah ihn vor sich, so müde, so gebrochen, wie er ihr Dankbarkeit bot – weiter nichts als Dankbarkeit! Aber mußte sie’s denn nicht thun der armen Kinder wegen? Nein! Hätte sie’s denn gekonnt, wenn sie Adler’s Frau geworden wäre? Ja dann, dann!
Und mächtiger als je erwachte in ihr die Sehnsucht nach dem Verlorenen. Ein schluchzender Schrei klang durch das Zimmer: „Ich kann nicht! Ich kann es nicht!“ – Sie wollte Alles thun, seine Kinder pflegen, sein Haus in Ordnung halten, Alles, nur nicht sein Weib werden!
„Nie!“ sagte sie laut und zornig, und ihre Hände ballten sich. „Nie! Ich will nicht!“
„Tante, komm doch her,“ weinte das Kind. Sie ging hinüber und beugte sich über das fiebernde Gesichtchen. „Mich dürstet, Tante; mir thut der Kopf so weh.“
Sie reichte Wasser und legte ihre kühle zitternde Hand auf die heiße Stirn. Sie setzte sich auf den Bettrand und starrte auf einen Fleck. Vor ihren Augen tanzten glühende Funken; dann flog ein leichter grüner Schein vorüber.
„Das ist seine Braut im Ballkleide! Geh weg,“ murmelte sie; „geh weg, was willst Du hier?“
Aber näher und näher kam es; sie schreckte empor – sie hatte doch nicht geschlafen?
Ein leises Flüstern drang in ihre Ohren; es war das alte Gebet, das Mathilde ihre Kinder gelehrt:
„Müde bin ich, geh zur Ruh –“
„Amen! Mein Kopf thut so weh!“ Die Kleine warf sich unruhig hin und her. „Bleibst Du bei mir, Tante? Geh’ nicht weg, wie die Kousine; ich fürchte mich.“
Lucie war vor dem Bette auf die Kniee gesunken. Sie dachte, wie auch sie einst krank gelegen und die Schwester nicht von sich gelassen, Tag und Nacht nicht.
„Ich muß! Ich muß!“ flüsterte sie. „Ich bleibe bei Dir, mein Annemariechen, schlafe, damit Dein Kopfweh besser wird.“
„Liebe, liebe Tante! Und ein weiches Aermchen schlang sich um ihren Hals.
Sie wagte nicht, sich zu rühren, bis das Kind schlief. Dann stand sie auf und tastete sich zu der Ofentruhe; dort saß sie regungslos im Kampfe mit sich selbst, stundenlang.
„Barmherziger Gott!“ schrie sie endlich, „ich kann es nicht, ich kann es nicht!“ Und schwer sank ihr Kopf gegen den Ofen.
Das erste Jahr im neuen Haushalt.
Liebste Marie!
Gestern war ich bei dem ersten großen Damenkaffee! Du erinnerst Dich gewiß noch, daß ich es verschworen habe, in einen solchen zu gehen, und auch vor ein paar Tagen, als die Einladung kam, sagte ich zu Hugo: „Nein, ich mag nicht hin, es ist zu gräßlich!“
„Warum nicht gar!“ erwiederte er, „Du kannst Dich davon nicht ausschließen, ohne für hochmüthig verschrieen zu werden. Ueberwinde Dich, Schatz! Es giebt schlimmere Dinge im Leben!“
Mit solchen Redensarten setzen sie ja immer ihren Willen durch; ich ging also, nach höherem Befehl, zur Frau Amtsräthin, aber wenigstens eine halbe Stunde später als die Anderen, die schon vollzählig um den
Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 253. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_253.jpg&oldid=- (Version vom 10.11.2023)