verschiedene: Die Gartenlaube (1865) | |
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diese hingestreckt und zu Häupten durch eine wasserdichte Decke geschützt, ließ ein halbes Dutzend abenteuerlustiger Passagiere sich in den schwarzen Schlund hineinblasen. Die Empfindung bei der Abfahrt, so berichteten sie später, war nichts weniger als angenehm. Etwa eine halbe Minute lang fühlte man einen Druck auf das Trommelfell wie beim Niedergehen in einer Taucherglocke, ein Gefühl von Ueberfluthetsein wie in der Brandung des Meeres und einen kalten Luftzug auf den Augen, der beinahe den Eindruck von fallendem Wasser hervorbrachte. Nachher ließen diese unangenehmen Empfindungen nach und man erfuhr weiter keine Unbequemlichkeit als ein ziemlich heftiges Rollen, Stoßen und Schütteln, indem der Zug mit häufigen Biegungen in dem engen Raume durch die unterirdische Dunkelheit dahinbrauste. Die Luft in dem Tunnel war übrigens nicht schlecht; gelegentlich wurde nur ein scharfer Geruch von Rost verspürt, der von der Verwitterung des Eisens herrührte, welches während der Legung der Tunnelröhren nicht absolut von atmosphärischen Einflüssen ausgeschlossen werden konnte. Man meint indeß, der Rost werde allmählich vor der Reibung der hin- und hereilenden Züge verschwinden. Der blanken Waffenrüstung der muthigen Touristen schadete er nicht. Denn wie sie sich nach Euston Square hatten hinblasen lassen, so ließen sie sich, trotz der fatalen Empfindungen bei der Abfahrt, trotz des Rollens, Stoßens und Schüttelns und trotz des Rostgeruchs, nach Holborn zurücksaugen, und etwas verwirrt, etwas geblendet, etwas unsicher auf den Füßen, aber mit dem Ausgang ihres Unternehmens entschieden befriedigt und mit nicht minder geschärftem Appetit für das ihrer harrende substantielle Frühstück, wurden sie bei ihrer Rückkehr von den lauten Cheers der Versammelten begrüßt und statteten Bericht über ihre unterirdischen Abenteuer ab.
Dieser Bericht klingt phantastisch genug, ist aber nichtsdestoweniger eine einfache Thatsache aus dem Londoner Leben. Die Erfolge der Pneumatik-Dispatch-Company haben auch bereits den Gedanken, den pneumatischen Apparat zur Personenbeförderung zu benutzen, von Neuem angeregt, und im Hinblick auf den angelsächsischen Unternehmungsgeist, auf die Fülle der vorhandenen Geldmittel und auf das immer wachsende Bedürfniß schnellerer und bequemerer Locomotion durch das gewaltige Labyrinth der Hauptstadt, würde es durchaus nicht überraschend sein, wenn London in zehn oder höchstens zwanzig Jahren mit einem Netz pneumatischer Eisenbahnen versorgt sein sollte, welche den gegenwärtig in Bau begriffenen Linien als Ergänzung dienten. Die Kosten dürfen geringer sein als die der Dampfeisenbahnen, und den Unbequemlichkeiten, welche die Pioniere in dem Güterzuge zwischen Holborn und Euston Square zu erdulden hatten, würde die unerschöpfliche Kunst der modernen Mechanik ohne Mühe abhelfen. Inzwischen ist es von Interesse das bereits Erreichte zu constatiren.
Nordwärts von der norwegischen kleinen Stadt Bodö an, unterm vierundsechszigsten Breitengrade, streckt sich eine scheinbar ununterbrochene Reihe von gigantischen, düstern Felsenwänden wie riesige Festungsmauern mit Thürmen und Bastionen aus dem grenzenlosen Meere hervor. Näher gesehen löst sich dieses zusammenhängende Felsennetz in eine Menge kahler steinerner Inseln von verschiedener Größe und jeder möglichen phantastischen Gestaltung auf, durchschnitten in allen Richtungen von Buchten und engen Pässen. Von keiner Seite kann das Auge in das Innere einer der Inseln dringen, denn sie recken ihre drohenden Gestalten und Häupter überall zwei- bis dreitausend Fuß über die Meeresfläche empor. Nirgends in der Welt macht die Natur wohl ein grausameres Gesicht als hier. Vergebens späht das Auge an den geradeaufsteigendcn Klippen empor oder dazwischen oder oben nach einem Zeichen grünen Lebens. Ueberall zurückschreckende Felsen und unten ringsum das endlose, tückische, arktische Meer.
So sehen die „Loffoden“ vom Meere her aus, diese mächtige Gruppe felsenverschlossener Inseln, auf denen kein menschliches Wesen den Tausenden von Seevögeln und Fischadlern oben die Herrschaft streitig macht. Aber trostlos und unfruchtbar, wie sie sind, abschreckend und menschenfeindlich, wie sie erscheinen, meilenlang nichts bietend, als kahle trotzige Klippen oder unabsehbare Eisgebirge, ernten doch hier just im härtesten Wintermonat etwa zwanzigtausend Norweger ihre Hauptnahrung und die Werthe, womit sie andere Lebensbedürfnisse bezahlen.
Die anderthalb Millionen Bewohner Norwegens haben auf ihren mehr als sechstausend Geviertmeilen Gebirgs-, Wald- und Felsenboden kaum fünfzig davon mit bestellbarem, ergiebigem Acker, der, zum Theil unter arktischen Breitengraden, nur kärgliche oder gar keine Ernten reift. So haben sie das unerschöpfliche Meer zu pflügen, zu bestellen und abzuernten lernen müssen. Auf mehr als fünf Breitengraden des Meeres (65–70) an der Nordwestküste entlang blüht ihr Weizen. Die Pflüge und Ackerwerkzeuge dazu sind ihre Schiffe, so daß die norwegische Flotte, trotz der geringen Einwohnerzahl des Landes, in Menge der Fahrzeuge gleich nach der englischen und der französischen kommt.
Ihre Haupternte besteht aus Stockfischen, Leberthran und Caviar daraus. Diese fängt immer um Weihnachten und um die Loffodeninseln herum an und dauert acht bis zwölf Wochen. Zwischen den Inseln und dem Festlande, etwa zwölf bis fünfzehn geographische Meilen lang, dacht sich der Meeresboden von vierzig bis zu siebenzig Klaftern Tiefe ab. Das ist der fetteste Boden für die Nordmänner. Gleich nach Weihnachten werfen sie hier ihre Tiefnetze aus, und der Erste, der mit einem Stockfisch kommt, wird als der Bote der Freude an der ganzen Küste entlang mit Jubel und Festlichkeiten begrüßt. Man weiß jetzt, daß diese Zugvögel des Meeres sich einstellen. Sie wandern in verschiedenen Zügen von der Weihnachtszeit an mehrere Wochen lang immer in diesem tiefen Meerescanale entlang, immer regelmäßig seit undenklichen Zeiten, um hier zu laichen. Um die Laichzeit im März ist das Meer oft meilenlang von Stockfischen gefärbt. In der Mitte des April ist Alles vorbei und kein Stockfisch mehr zu entdecken.
Schon im November beginnen die Vorbereitungen mit steigender Geschäftigkeit bis nach Weihnachten. Ungeheure Netze werden gestrickt und ausgebessert, Schiffe und Boote getheert, in- und auswendig gerüstet, mit Vorräthen befrachtet, Seehunds- und Pelzkleidung und mächtige Wasserstiefeln zurecht gemacht, bis es an nichts mehr fehlt, als dem ersten Stockfische und einem günstigen Winde. Endlich finden sich beide ein, und zwanzigtausend tapfere Ritter des Meeres nehmen Abschied von rothwangigen Kindern, silberhaarigen Greisen, weinenden Frauen und Töchtern und reiten kühn über die grimmigen Wogen des eisigen Meeres hinaus.
Ihre langgestreckten, leichten, fichtenen Rosse sprengen, tapfer und geschickt gelenkt, in den Sturm hinein, der von den Felsen herabwüthet und das Wasser zu weißem Schaum aufpeitscht. Mit einem einzigen viereckigen Segel, dessen Tau oder Zaum von der stärksten, kundigsten Hand geführt wird, fliegen sie über weißkämmige wallende Wogengebirge, stürzen sie sich hinab und schießen wieder empor, um in neue Tiefen zu stürzen, immer auf- und ab- und hin- und hergeschleudert, ohne die Herrschaft über sich selbst und die blinde Wuth der Stürme und Wogen zu verlieren. Dennoch freilich fragt am Ende jeder Ernte manche Lenore „den Zug wohl auf und ab“, steigt manche Mutter und Gattin an steilen Klippen empor, um weit hinauszuspähen, ob Vater und Ernährer mit dem Sohne nicht endlich doch noch zurückkehren werden. Und es kommt Niemand und sie sieht auf allen Weiten des Meeres niemals das wohlbekannte Segel aufleuchten, so daß sie endlich überzeugt ist: Vater kehrt niemals wieder! –
Die Stockfisch-Ritter wohnen theils in den Spalten und Klüften der Loffoden selbst, theils kommen sie von verschiedenen Gegenden der Küste her. Die Boote der letzteren sind fünfruderig, die der ersteren kleiner, aber alle leicht von Fichtenholz mit einem Mast und einem Segel. Steuermann und Capitän oder absoluter Commandeur sind immer ein und dieselbe Person. Sein Wort ist Gesetz, dem man ohne Ausnahme pünktlich gehorcht, da Jeder von seinen Leuten vorher wegen seiner Tüchtigkeit und allgemeinen Vertrauens gewählt ward. Man findet oft sehr junge Bootkönige über lauter ältere Leute, die selbst sagen, daß sie mit dem Alter Muth und Geistesgegenwart in Gefahren verlieren. Die ganz freie Wahl der Leute, die da wissen, was ihr Oberhaupt verstehen muß und leisten soll, entscheidet sich oft sehr originell, aber selten
verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 797. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_797.jpg&oldid=- (Version vom 14.12.2022)